Rezension zu Dreier: Staat ohne Gott - Religion in der säkularen Moderne

von Gerhard Czermak

Kürzlich hat Horst Dreier, einer der bekanntesten deutschen Verfassungsrechtler, dieses handliche Buch mit dem Aufmerksamkeit erregenden, aber doch zutreffenden Titel vorgelegt. Es ist nicht nur ausgereift, sondern so gut zu lesen, dass es auch vielen Nichtjuristen gefallen wird. Kerngedanke ist die immer noch manchmal angefochtene [s. dazu die Besprechung von Markus Müller "Religion im Rechtsstaat"] These, der moderne Staat dürfe sich mit keiner religiösen oder nichtreligiösen Weltanschauung identifizieren.

Das Buch ist keine Streitschrift und befasst sich nur am Rande mit notorischen Konfliktfällen wie dem islamischen Kopftuch. Es konzentriert sich vielmehr auf die Grundfragen des säkularen Staats. Schon in der Einführung sind wichtige Erkenntnisse in prägnanten Merksätzen und zitiergeeigneten Passagen formuliert, etwa: "Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates bildet die Kehrseite der Religionsfreiheit." – "Im freiheitlichen Verfassungsstaat ist die Autorität des Rechts von der Autorität eines bestimmten Glaubens oder einer bestimmten Weltanschauung abgekoppelt." – Jenseits des Volkes "gibt es für den irdischen Staat und das weltliche Recht keine weitere Legitimationsinstanz oder Sinnstiftungsquelle." – " … der säkulare Staat befindet sich in einem Verhältnis der Äquidistanz zu allen religiösen wie weltanschaulichen Positionen, nicht in einer Oppositionshaltung zu ihnen."

Die sechs Kapitel des Buches sind alle gesondert lesbar und sehr gut verständlich. Kapitel I befasst sich mit der Begriffsvielfalt und den Facetten von "Säkularisierung." Dabei gilt: "Wir dürfen die Säkularisierung des Staates nicht mit der Säkularisierung der Gesellschaft verwechseln." Zur Begriffsverwendung gehört auch die als "kulturdiagnostischer Schlüsselbegriff". Erörtert werden die Säkularisation von Geistlichen zu Weltpriestern und die Säkularisation als Entzug von Herrschafts- und Vermögensrechten (1803) mit ihrer weichenstellenden Bedeutung für die Entwicklung Deutschlands. Etwas schwierig zu lesen ist der Exkurs zu Hans Blumenberg mit seiner Kernthese von der Eigenständigkeit der Moderne unabhängig vom Christentum. In den Erörterungen zum Religionsschwund zitiert Dreier die empirisch belegte Aussage, die Positionsverluste der traditionellen europäischen Religion würden durch die zunehmenden außerkirchlichen Religiositätsformen nicht kompensiert. In staatsrechtlicher Hinsicht bestehe die Moderne, historisch betrachtet, im "Verzicht auf Transzendenz als Begründungsressource". Das Wesen des freiheitlichen modernen Verfassungsstaats könnte man mit Dreier so zusammenfassen: "Die Normativität der Rechtsgarantien und die Faktizität religiöser Energien stehen … in keinem festen Kausalitätsverhältnis zueinander. Am Säkularisierungsgrad der staatlichen Rechtsnormen ist daher ‚keineswegs der Grad der Säkularisierung in der Gesellschaft‘ [Zitat M. Heckel] abzulesen." "Entscheidend ist die Religionsindifferenz der Religionsfreiheit."

Eine gute Einführung in die deutsche Verfassungsgeschichte der Religionsfreiheit vom Augsburger Religionsfrieden bis zur Weimarer Zeit ("Epochenschwelle") bzw. Bundesrepublik bietet das 35-seitige Kapitel II. Das nach Umfang (45 S.) und Bedeutung zentrale Kapitel III erörtert die Grundsatzfragen und die teilweise erhobene Kritik der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staats. Der Neutralität komme im GG eine "Schlüsselrolle" zu. Sie markiere "die Sinnmitte der rechten Verortung der Religion in einem pluralen und freiheitlichen Gemeinwesen" (jeweils S. 95). Denn im "Neutralitätsgebot" liefen wesentliche historische Entwicklungslinien und zentrale verfassungsrechtliche sowie politisch-philosophische Begründungsmuster zusammen. Juristischer Ausgangspunkt ist natürlich die normative Zusammenschau des BVerfG aus dem Jahr 1965 (BVerfGE 19, 206/216), die Dreier als "kanonisch" bezeichnet. Anschließend erörtert er die verschiedenen Teilgehalte der Neutralität.

Institutionelle Nichtidentifikation (Trennung) bedeutet im Hinblick auf Art. 137 I WRV: "Jede Form der Verklammerung staatlicher und kirchlicher Institutionen ist damit ausgeschlossen." Das allgemeine Einmischungsverbot schließe aber Kooperation nicht aus. Die sachliche Nichtidentifikation untersagt die Einmischung in die Glaubensangelegenheiten der Individuen, wobei Dreier die generelle Gleichberechtigung von Religion und Weltanschauung betont. Der Staat dürfe die Einstellungen der Bürger weder ablehnen noch unterstützen (BVerfGE 105, 279 (294 f.) und auch nicht den Anschein erwecken, er ergreife Partei. Das gelte auch für religiöse Symbole. Im Diskriminierungsverbot greifen, so Dreier, Freiheits- und Gleichheitsaspekte ineinander und es gelte Äquidistanz zwischen Religionen und Weltanschauungen. Bei deren öffentlichen Wirkungsmöglichkeiten sei auf "strikte Gleichbehandlung" zu achten. Das Neutralitätsgebot sei privilegienfeindlich. Zur Neutralität gehöre auch die Säkularität des Staats. Dieser verzichte auf religiöse Legitimation und baue auf Legalität, nicht Moralität. Der neutrale pluralistische Staat erhält nach Dreier auch einen Bedeutungszuwachs, weil seine Neutralität eine Wahrnehmung seiner Aufgaben ermöglicht, ohne dabei Spannungen zwischen den verschiedenen religiös-weltanschaulichen Richtungen hervorzurufen. Mit der wachsenden Pluralisierung steigt daher die Bedeutung des Neutralitätsgebots.

Hierzu sei kritisch angemerkt, dass die deutschen Fakten nicht auf einen Spannungsabbau hindeuten. Das Neutralitätsgebot kann allerdings nur positiv wirken, wenn es von den tragenden und auch breiten Schichten der Bevölkerung verinnerlicht und auch den verfolgten und geflüchteten Zugewanderten nahegebracht wird. Aber Politik und Schule versagen hier fast vollständig. Sogar das BVerfG hat 2015 mit seiner zweiten Kopftuchentscheidung das Neutralitätsgebot sogar noch mehr geschwächt. Dem ersten Senat müsste daher das hier erörterte Buch besonders ans Herz gelegt werden.

Dreier kritisiert zu Recht, dass die Judikatur eine grundrechtliche Sichtweise bevorzuge und das Neutralitätsgebot in den Hintergrund dränge. Die objektive Bedeutung des Neutralitätsgebots wird dann näher im Hinblick auf den (meist vernachlässigten) Rechtsetzungsprozess untersucht. Einleuchtend begründet wird das unvermeidliche Teilergebnis, eine Wirkungsneutralität sei weder möglich, noch erstrebenswert. Entscheidend ist aber die Begründungsneutralität. Sie bedeutet nicht, dass im parlamentarischen Wettbewerb religiös-ideologische Gründe unzulässig wären, wohl aber, dass sich das normative Ergebnis im Nachhinein grundsätzlich von allen Rechtsgenossen als rational und gerecht nachvollziehen lässt. Es geht also um die neutrale Begründbarkeit ohne Bezugnahme auf religiöse bzw. ideologische Motive. Der Behauptung Dreiers, "nur ganz selten" sei eine solche Begründbarkeit nicht möglich (112), sei aber nachdrücklich widersprochen. Ich nenne nur die Bereiche Privilegien, Schulwesen, Religionsförderung, Religionsstrafrecht, Sonderrechte für Religionsgemeinschaften als K.d.ö.R. (Nicht ordnungsgemäß begründbares nichtneutrales Verhalten des Staats zu kritisieren und einzudämmen, ist eine Hauptaufgabe des ifw).

Dreier legt dar, dass sein Neutralitätskonzept (das wohl zumindest theoretisch auch das des juristischen Mainstreams geworden ist; s. auch Rezension zu "Die ethische Neutralität des Staates" nicht zu widerlegen sein dürfte. Er benennt insbesondere unzutreffende Hinweise aus dem GG (Religionsunterricht, Körperschaftsstatus, Sonntagsprivileg). Der Einwand eines weltanschaulichen Eigengehalts des GG unterscheide fehlerhaft nicht zwischen Weltanschauung und Grundprinzipien einer freiheitlichen Staatsordnung, die die Sinnfrage offenlässt. Originalton: "Die Verfassung ist ‚weltanschaulich neutral, aber nicht wertneutral‘ [Zitat K. Hesse]".

Als exemplarisches Problemfeld benennt der Verfasser zunächst den Versuch einer Revision der vom BVerfG längst aufgegebenen Kulturadäquanzformel durch die Forderung nach freiheitsunterstützender Intervention zugunsten gemeinwohldienlicher Religionen. Mit solchen Nützlichkeitserwägungen würde aber, so Dreier mit begrüßenswerter Klarheit, "die Axt an das Neutralitätsgebot gelegt" (128). Ihre Umsetzung würde "eine Revolution des gegenwärtigen Religionsverfassungsrechts bewirken" (129). Als weiteren Punkt erörtert Dreier das schulische Erziehungsziel "Ehrfurcht vor Go.tt". Regelrecht amüsant sind seine Hinweise auf die "zuweilen recht kryptischen Interpretationen" von einschlägigen landesrechtlichen Normen. Am Ende schrumpfe "Ehrfurcht vor Got.t" zu einer "Transzendenzmetapher". Aber auch das überschreite die staatliche Kompetenz " (131). Die einschlägige Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs von 1988 gibt Dreier gerade durch seine sachliche Darstellung erneut der Lächerlichkeit preis. Wenn das BVerfG die Geschichte des Christentums einmal zu einer Art Vorgeschichte des Grundgesetzes gemacht habe, sei das "kurios" (134). In seinen Anmerkungen zur Rspr. des BVerfG moniert D. in den schulischen Kreuz- und Kopftuchfällen zu Recht, dass es mehr noch als um Grundrechtseingriffe um Verstöße gegen das Neutralitätsgebot gehe, ein Gesichtspunkt, der in der Judikatur stark zurücktrete. Die vom BVerwG modifizierte und mit widersprüchlicher Begründung noch gehaltene Widerspruchsregelung des bayerischen Kruzifix-Gesetzes von 1995 verstoße gegen das Identifikationsverbot (135 ff.).

Kapitel IV befasst sich mit der Problematik behaupteter sakraler Elemente im säkularen Staat, denn neuerdings habe das Heilige in Philosophie und Literatur Konjunktur und erscheine in den Kulturwissenschaften sogar als eines der konstitutiven Momente der säkularisierten Moderne. Es irritiere, dass in jüngerer Zeit teilweise sogar in der deutschen Staatsrechtslehre die Prägung des politischen Gemeinwesens durch Rationalität zurückgedrängt werde. Man verorte das Gemeinwesen zentral "in dunklen Tiefenschichten des Mythos" (143). Dreier kritisiert die These von der Sakralisierung des Rechts in der Moderne, die Rede vom mythischen Charakter der Verfassung, den instrumentellen Einsatz der Menschenwürde, die Gefährdung der Trennung von Recht und Moral (dazu auch einschlägiger Lexikonartikel). Er sieht Anlass, von "befremdlichen Thesen" und von "dunklem Geraune" zu sprechen und nennt auch Namen. Trotz des Seltenheitscharakters extremer Ansichten von Juristen erscheint Dreier "dieses Maß an Obskurantismus doch besorgniserregend" (156).

Auf ansprechende Weise widmet sich Kapitel V dem Präambel-G.ott und der Frage, ob die Formulierung "Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Got.t und den Menschen …" geeignet ist, die religiös-weltanschauliche Neutralität des GG zu modifizieren. Im Ergebnis ist das natürlich nicht der Fall, was unter Verfassungsrechtlern auch so gut wie unbestritten ist (siehe dazu ergänzend  den Lexikon-Artikel "Gott als Verfassungsbegriff"). Im abschließenden Kapitel VI stellt sich mit dem bekannten Böckenförde-Diktum die Frage nach den inneren Regelungskräften und der gesellschaftlichen Akzeptanz des Staats. Interessant ist die Erörterung des Entstehungszusammenhangs des Böckenförde-Theorems und der gegensätzlichen Lesarten. In der Analyse der Ausgangsthese, der Staat lebe von Voraussetzungen, die er nicht selbst garantieren könne, kommt Dreier zu folgendem Ergebnis: "Schon gar nicht läßt sein Text … eine strategische Parteinahme zugunsten der institutionalisierten Kirchen erkennen. Gegen entsprechende Vorwürfe restaurativer Instrumentalisierung hat sich Böckenförde … explizit verwahrt und entsprechende Richtigstellungen vorgenommen." Dreier beschäftigt sich abschließend mit der von Böckenförde nicht beantworteten Frage nach den Staat und Gesellschaft tragenden integrierenden Kräften. Hierzu gibt Dreier einige Hinweise. Wenn er aber den Verfassungspatriotismus als eine "eher blutleere Intellektuellenvorstellung" bezeichnet, so dürfte das wesentlich daran liegen, dass eine qualifizierte staatsbürgerliche Erziehung an unseren Schulen kaum stattfindet. Das wäre viel wichtiger als die vielen neutralitätswidrigen Aktivitäten des Staats. Ergänzend zum Böckenförde-Diktum: hpd Artikel.

Horst Dreier kommt das Verdienst zu, ein inhaltlich vielseitiges und ausgezeichnet lesbares Buch zu Themen geschrieben zu haben, die auch eine breite nichtjuristische Leserschaft interessieren sollten. Durch ein Sachregister ist das Buch sehr gut erschlossen. Für Juristen können der aktuelle wissenschaftliche Apparat und das ausführliche Literaturverzeichnis von großem Nutzen sein. Die auch in der Judikatur vielfach vage gebliebene religiös-weltanschauliche Neutralität erhält klare und gut begründete Konturen – ein beachtliches Kabinettstück. – Was die zahlenmäßig von Dreier deutlich unterschätzten Negativbeispiele anbelangt, bleibt u. a. dem ifw noch viel zu tun.

Dem weltanschauungsrechtlich informierten Juristen  bieten größere Teile des Werks zwar keine wirklich neuen Erkenntnisse, aber auch da überzeugt das Buch durch prägnante Formulierungen und interessante Nebenaspekte, die die Lektüre zu einem Genuss machen.

Link zum Buch

Horst Dreier: Staat ohne G.ott - Religion in der säkularen Moderne.
München 2018 (C. H. Beck), 256 S. ISBN-13: 978-3406718717