Abschaffung § 166 StGB am #BlasphemyDay bekräftigt – Gute Aussichten bei einer Jamaika-Koalition

Am heutigen #BlasphemyDay haben die Rechtsexperten des Instituts für Weltanschauungsrecht (ifw) die Forderung zur Abschaffung des § 166 Strafgesetzbuch (StGB) durch den Deutschen Bundestag bekräftigt. Laut ifw ist die rechtspolitische Ausgangslage für eine Abschaffung des Blasphemieparagrafen so gut, wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Zu dieser Einschätzung kommt das Institut nach einer Auswertung der Positionen der im Bundestag vertretenen sechs Parteien. Das Ergebnis: In einer möglichen Jamaika-Koalition (CDU/CSU, FDP, Grüne) ist die Mehrheit der Regierungsfraktionen (FDP und Grüne) für die Abschaffung. Entscheidend wird sein, ob es den beiden kleineren Koalitionspartnern gelingt, diesen Punkt einer Strafrechtsreform gemeinsam mit säkularen Unionspolitikern im zukünftigen Regierungsprogramm zu verankern. Bei der Fortsetzung der Großen Koalition (CDU/CSU, SPD) ist die Abschaffung weniger wahrscheinlich, jedoch sind die vorgebrachten Argumente "Pro § 166 StGB" rechtlich angreifbar und sogar in zentralen Punkten widerlegt. Die ifw-Kommentare zu den Standpunkten der Parteien befinden sich am Ende dieses Beitrags.

Verletzung des Rechtsstaatsprinzips und des Bestimmtheitsgrundsatzes

Zu den rechtspolitischen Gründen der Abschaffungsforderung sagt Jacqueline Neumann, wissenschaftliche Koordinatorin des ifw: "Der § 166 StGB verletzt das Rechtsstaatsprinzip und den Bestimmtheitsgrundsatz im Grundgesetz." Gemäß Grundgesetz Art. 103 Abs. 2 muss die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt sein, bevor die Tat begangen wurde. Jedoch wird nach § 166 StGB die Meinungsäußerung erst nachträglich durch das Handeln des "Opfers" zu einer Straftat, nämlich, wenn das "Opfer" für eine Störung des öffentlichen Friedens sorgt oder damit droht oder einer Religionsgruppe angehört, bei der die deutschen Strafverfolgungsbehörden mit einer Störung des öffentlichen Friedens rechnen können. Zudem ist unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten der Bestimmtheitsgrundsatz einzuhalten. Der "öffentliche Friede", definiert als Zustand allgemeiner Rechtssicherheit ermöglicht keine Abgrenzung straflosen und strafbewehrten Verhaltens. Als Unrechtsbegründung bleibt der Hinweis auf eine drohende Trübung der Sicherheitserwartungen zirkulär: Der öffentliche Frieden soll nur durch eine Unrechtstat gestört werden können, die gerade deswegen Unrechtstat ist, weil sie den öffentlichen Frieden störe. Der Ansatz setzt den Unrechtsgehalt der Handlung voraus, den es erst noch zu begründen gilt. Nicht das Unrecht des potenziellen Gefährdungserfolges, sondern der Tat (des Beschimpfens) muss begründet werden. (Stübinger, Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, StGB, 5. Aufl. 2017, § 166 Rn. 2).

Beispiel: Strafrechtliche Wirrungen im Münsteraner Spruchtaxi-Verfahren

In welchen Untiefen der Rechtsstaat mit der Beibehaltung von § 166 StGB umhertreibt, wurde erneut 2017 im Münsteraner Spruchtaxi-Verfahren deutlich, als Strafverteidiger Winfried Rath (ifw-Direktorium) gegen eine teilweise bizarre Argumentationsführung einen Freispruch erreichte. Denn die Staatsanwaltschaft war der Auffassung, dass die erstinstanzliche Verurteilung des Angeklagten richtig gewesen und die Anwendung des §166 StGB insbesondere nach dem islamistischen Mordanschlag auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo (2015) wichtig sei, um bei bestimmten Religionsgruppen nicht einen "Brand" auszulösen. Zurecht hielt es den Verteidiger angesichts dieser strafrechtlichen Wirrungen des § 166 StGB nicht auf seinem Stuhl. Denn gerade Charlie Hebdo zeige, betonte Rath gegenüber Staatsanwalt und Richter, dass Gewalt nicht dazu führen dürfe, die Meinungsfreiheit einzuschränken. Der Humanistische Pressedient (hpd), BILD und überregionale Zeitungen berichteten darüber.

Keine Umkehrung des Täter-Opfer-Verhältnisses

Michael Schmidt-Salomon (ifw-Direktorium und Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung) hatte bereits in der 166-er Bundestagspetition 2015 festgestellt: "Man muss sich vergegenwärtigen, dass nach deutschem Gesetz die Satiriker von ‚Charlie Hebdo‘ hätten verurteilt werden können, weil ihre Zeichnungen Fundamentalisten dazu animierten, Terrorakte zu begehen. Eine solche Umkehrung des Täter-Opfer-Verhältnisses dürfte es in einem modernen Rechtsstaat nicht geben!".


Standpunkte der Parteien im Deutschen Bundestag zur Abschaffung §166 StGB mit ifw-Kommentar

CDU/CSU: "CDU und CSU stehen für eine offene Gesellschaft. Diese setzt voraus, dass das Miteinander der Menschen von unterschiedlicher Herkunft, Überzeugung und Lebensweise von Respekt voreinander getragen wird. Ebenso, wie es nicht hinnehmbar ist, dass Menschen z. B. wegen ihrer Religion oder Weltanschauung diskriminiert werden – dies ist in § 1 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) festgeschrieben -, ist es auch nicht hinnehmbar, dass eine Religion oder Weltanschauung öffentlich beschimpft oder herabgewürdigt wird, wenn durch eine solche pauschale Diskriminierung der öffentliche Friede (denn dieser ist das Schutzgut von § 166 StGB!) gestört wird. Von daher lehnen CDU und CSU die Abschaffung des § 166 StGB ab. Gegen die Abschaffung des § 166 StGB haben sich übrigens auch Fachleute wie der Deutsche Juristentag ausgesprochen: ‚Der Tatbestand der Bekenntnisbeschimpfung (§ 166 StGB) sollte beibehalten werden, da diesem, ebenso wie anderen friedensschützenden Tatbeständen, in einer kulturell und religiös zunehmend pluralistisch geprägten Gesellschaft eine zwar weitgehend symbolhafte, gleichwohl aber rechtspolitisch bedeutsame, werteprägende Funktion zu kommt. Er gibt religiösen Minderheiten das Gefühl existenzieller Sicherheit.‘"

ifw-Kommentar: Im Zusammenhang des § 166 StGB wird der öffentliche Friede nicht durch eine "pauschale Diskriminierung" gestört, sondern durch die Gewaltbereitschaft der religiös Beleidigten. In einer zunehmend pluralisierten Gesellschaft fördert der Blasphemie-Paragraf falsche Erwartungen von religiös Beleidigten an die Rolle und den säkularen Standpunkt des Staates. 

Grundsätzlich ist nach Auffassung des ifw in der pluralisierten Gesellschaft in Deutschland bei der Vielzahl an Religionen und der Vielzahl an Glaubensrichtungen innerhalb einer Religion für die meinungsäußernden Bürgerinnen und Bürger keine Prognose möglich, wodurch und bei wem religiöse Gefühle verletzt werden, und ob dadurch bestimmte Personengruppen das Eigentum und das Leben ihrer Mitmenschen zerstören und den öffentlichen Frieden verletzen werden. Es geht daher an der Rechtswirklichkeit vorbei, wenn der deutsche Gesetzgeber den Künstlern, Kabarettisten, Satirikern, freien Bürgerinnen und Bürgern bei der Ausübung ihres Grundrechtes auf freie Meinungsäußerung auferlegt, vorab die Gewaltbereitschaft religiöser Gruppen strafrechtlich zuverlässig einzuschätzen.

Weder der Gesetzgeber bei der Verabschiedung des Paragrafen, noch die Gerichte haben in den bisherigen 166er-Verfahren Fachgutachten zur Messung religiöser Gefühle eingeholt und Benchmarks zum Zusammenhang der Gefährdung des öffentlichen Friedens definiert, welche bei der Rechtsauslegung helfen. Verkürzt gesagt, wenn es um die Auslegung der Formel geht: Anzahl x Aggressionsniveau der religiös Beleidigten = Tatbestand nach § 166 StGB.

Entgegen der in der Parteiposition zitierten Behauptung bietet der § 166 StGB ausgerechnet den kleinen Minderheiten keinen Schutz und damit kein Sicherheitsgefühl, sondern nur größeren Religionsgruppen. Da eine ausreichende Anzahl an Personen ein hinreichendes Maß an Gewaltbereitschaft ankündigen muss (liegt im Ermessen der jeweils damit befassten Staatsanwälte und Richter) und/oder ein hinreichendes Maß an Gewalt gegen Personen und Sachen in der Öffentlichkeit vollziehen muss, kommt dem Blasphemie-Paragrafen damit in der Tat eine "rechtspolitisch bedeutsame, werteprägende Funktion" zu: allerdings in negativer Hinsicht – als Aufruf zum Faustrecht.

Dürfen Meinungsfreiheit, Kunst und Satire alles? Selbstverständlich nicht: Personen und Personengruppen sind in Deutschland hinreichend per Gesetz geschützt, unter anderem bei Beleidigung (§185 Strafgesetzbuch), übler Nachrede (§ 186 Strafgesetzbuch), Verleumdung (§ 187 Strafgesetzbuch) und Volksverhetzung (§ 130 Strafgesetzbuch).

Mit § 166 StGB wird derjenige ungleichbehandelt, der friedliebend und tolerant ist, und nicht eskaliert. Recht hat der, der gefühlsmäßig religiös reizbar ist und der die Eskalation seiner inneren Gefühlswelt in die Bevölkerung und die Bevölkerung zu (gewaltsamen) Ausschreitungen auf die Straße bringt – oder unserem Rechtssystem glaubhaft damit droht. § 166 StGB verfehlt seinen Zweck. Der Paragraf schützt keineswegs das Rechtsgut des öffentlichen Friedens – im Gegenteil.

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SPD: "Wir als SPD wollen Religionsgemeinschaften staatlich schützen, der Respekt von den Gefühlen anderer ist uns wichtig. Dazu kommt, dass die kriminalpolitische Relevanz dieses Paragraphen sehr gering ist."

ifw-Kommentar: Es gibt kein Grundrecht darauf, in seinen Gefühlen nicht verletzt zu werden. Das gilt auch dann, wenn die Gefühle religiöser Art sind.

Zur geringen kriminalpolitische Relevanz: In der Tat ist die Anzahl der verhandelten Fälle bundesweit gering. Demnach könnte der § 166 StGB doch ohne Komplikationen abgeschafft werden. Dieses Argument spricht also gegen und nicht für eine Beibehaltung des Blasphemieparagrafen. Oder wird eine politische "Relevanz dieses Paragraphen" in einem anderen Bereich außerhalb der Kriminalpolitik angestrebt? Welcher Bereich der (Rechts-)Politik soll das sein? Wenn der Gesetzgeber unjuristisch aus diffusem "Respekt von den Gefühlen" einen Eingriff in das Rechtssystem vornimmt, ist zu realisieren, dass die dadurch verursachte Strafbewehrung von Teilaspekten der Meinungs-, Presse-, und Kunstfreiheit die Bürgerinnen und Bürger bei der Ausübung ihrer Grundrechte unzulässig einschränkt.

Zudem ist die internationale Signalwirkung nicht zu unterschätzen. Dazu schaue man die Liga der Länder auf der Weltkarte an, in die der Gesetzgeber Deutschland mit dem Blasphemieparagrafen gebracht hat: http://end-blasphemy-laws.org. Die Beibehaltung des § 166 StGB hat negative Relevanz für die außen- und menschenrechtspolitische Glaubwürdigkeit Deutschlands in den Gremien der Vereinten Nationen und im Dialog mit Gottesstaaten und repressiven Regimen auf der ganzen Welt. Deswegen: das Blasphemiegesetz in Deutschland abschaffen, und dann mit höherer Glaubwürdigkeit im Ausland für die Opfer der Blasphemiegesetze eintreten. Für #FreeRaif #FreeAshraf und viele andere mehr.

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AfD: Der KORSO – Koordinierungsrat säkularer Organisationen erhielt keine Antwort auf den Wahlprüfstein. Auch im Wahlprogramm gibt es hierzu keine Aussage.

ifw-Kommentar: Entfällt bis auf weiteres.

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FDP: "Wir Freie Demokraten werden den sogenannten "Blasphemieparagraphen" § 166 StGB abschaffen."

ifw-Kommentar: Genau. Das ist säkulare Rechtspolitik.

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DIE LINKE: "Zur Bundestagswahl 2013 hatten wir die Forderung nach einer Abschaffung des § 166 noch im Bundestagswahlprogramm, 2017 fand ein entsprechender Antrag keine Mehrheit."… "Unser Ziel ist, uns sowohl für umfassende Religionsfreiheit, als auch für die Trennung von Staat und Kirchen einzusetzen."

ifw-Kommentar: Was hat § 166 StGB mit der "Religionsfreiheit" zu tun? Als Rechtswissenschaftler vertreten wir die Meinung, dass der § 166 StGB nicht als gesetzliche Konkretisierung einer Schutzpflicht aus dem Art. 4 GG ("Religionsfreiheit") angesehen werden kann. Gemäß Art. 4 GG ist die Weltanschauungsfreiheit des Einen (mit der Unterkategorie der Glaubens- und Religionsfreiheit) durch die blasphemische Meinungsäußerung des Anderen nicht betroffen. Das Anbringen von Bibelsprüchen an der Kfz-Heckscheibe oder das Zeichnen von Mohammed-Karikaturen schränkt die religiöse Willensentschließungsfreiheit nicht ein. Der Schutzbereich von Art. 4 GG (Weltanschauungsfreiheit) wird dementsprechend gar nicht eröffnet. Abwägungen mit der Meinungs-, Presse-, oder Kunstfreiheit werden landläufig in der Debatte des Gesetzgebers und von Gerichten zwar vorgenommen, gehen jedoch rechtlich am Schutzgut vorbei und sind daher gar nicht erforderlich.

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BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN: "Unser demokratischer Rechtsstaat hält alle notwendigen Mittel bereit, um sich gegen Individual- und Kollektivbeleidigungen und auch gegen Volksverhetzung zu wehren. Deshalb wollen wir § 166 StGB streichen."

ifw-Kommentar: Sehen wir auch so. Das ist säkulare Rechtspolitik.

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Anmerkung:

Die Parteien sind in der Reihenfolge ihrer Fraktionsgröße im Deutschen Bundestag aufgeführt. Die vorgenannten Standpunkte stammen aus den Antworten der Parteien auf die Wahlprüfsteine zur Bundestagswahl 2017, die vom KORSO – Koordinierungsrat säkularer Organisationen eingeholt wurden: http://www.korso-deutschland.de/1553/der-korso-hat-gefragt-und-die-parteien-haben-geantwortet

Das ifw hat die relevanten Zitate aus den Antworten der Parteien ausgewählt. Die Kriterien für die Auswahl der Zitate bestanden darin, zum einen die Kernaussage zur Parteiposition in Bezug auf die Abschaffung des § 166 StGB und zum anderen die rechtswissenschaftliche Begründung zu erfassen.


Das Institut für Weltanschauungsrecht (ifw) unterstützt die internationale Kampagne zur Abschaffung von Blasphemie-Gesetzen, die von der Internationalen Humanistischen und Ethischen Union (IHEU) koordiniert wird. Weiteres: http://end-blasphemy-laws.org