Mündliche Verhandlung zu § 217 StGB (Sterbehilfe): "Eine Sternstunde des Bundesverfassungsgerichts"

Am 16.-17. April 2019 haben Dr. Michael Schmidt-Salomon und Dr. Jacqueline Neumann für die Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) als Sachverständige an der mündlichen Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu den Verfassungsbeschwerden gegen den im Jahr 2015 eingeführten § 217 StGB (Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung) teilgenommen.  

Michael Schmidt-Salomon bewertete die mündliche Verhandlung als "Sternstunde des Bundesverfassungsgerichts". "Der Präsident des Bundesverfassungsgericht Prof. Andreas Voßkuhle hat das Verfahren in brillanter Weise geleitet. Wir waren im Vorfeld ein wenig besorgt, weil das Gericht vorwiegend kirchennahe Experten geladen hatte, um über die Themen Suizid, Palliativmedizin und Freiverantwortlichkeit der Entscheidung Auskunft zu erteilen. Aber die präzisen Fragen, die der Senat stellte, deckten die Lückenhaftigkeit der Argumentation der Befürworter von § 217 StGB in aller Deutlichkeit auf."

Eines der Hauptargumente der anwesenden Bundestagsabgeordneten zur Verteidigung des "Gesetzes zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung" habe darin bestanden, dass das Angebot professioneller Suizidhilfe eine entsprechende Nachfrage schaffe, was sich in erhöhten Suizidraten niederschlagen würde. Die Richterinnen und Richter wiesen in diesem Zusammenhang darauf hin, so Schmidt-Salomon, "dass man einen solchen Anstieg der Suizidzahlen zwar aus einer bestimmten moralischen Sicht verurteilen könne, dass dies aber verfassungsrechtlich nicht relevant sei. Schließlich könne eine steigende Anzahl von Freitodbegleitungen schlicht Ausdruck davon sein, dass mehr freiverantwortliche Menschen über ihr eigenes Leben und Sterben selbst bestimmen könnten, was ihr gutes Recht sei. Im Laufe des Verfahrens wurde klar, dass das Gericht dem individuellen Selbstbestimmungsrecht eine herausragende Bedeutung einräumt. Daher bin ich zuversichtlich, dass das Bundesverfassungsgericht den Verfassungsbeschwerden folgen und § 217 StGB in seiner jetzigen Form als verfassungswidrig verwerfen wird."

Ludwig A. Minelli, Beirat von gbs und ifw, Dignitas-Gründer und einer der Beschwerdeführer, erhielt vom BVerfG ausführlich die Gelegenheit darzustellen, dass Sterbehilfe auch Lebenshilfe ist und es keinen Grund gäbe, diese zu kriminalisieren.

Übersicht der eingebrachten gbs-Stellungnahmen:

Demnach ist der § 217 StGB "weder geeignet, noch erforderlich noch verhältnismäßig, um die Interessen der Bürgerinnen und Bürger zu schützen".

"Ein Gesetz, das fundamentale Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger zugunsten eines staatlichen Paternalismus aushebelt, das schwerstkranken Menschen ihre Würde raubt, sie katastrophalen Risiken ausliefert und ihnen die letzte Chance auf Selbstbestimmung nimmt, das den Erfordernissen einer rationalen Rechtsbegründung zuwiderläuft und in drastischer Weise gegen das Prinzip der weltanschaulichen Neutralität des Staates verstößt, das Ärzten mit empfindlichen Strafen droht, wenn sie ihren Patienten in deren schwersten Stunden zur Seite stehen, das nicht zuletzt auch gegen das klare Votum einer überwältigenden Bevölkerungsmehrheit gerichtet ist und stattdessen den Partikularinteressen einer kleinen, jedoch einflussreichen Lobbygruppe (Kirchenfunktionäre, Pharmahersteller, Klinikbetreiber, Pflegedienste) folgt, kann und darf in einem modernen, liberalen Rechtsstaat keinen Bestand haben!"

Darin heißt es nach ausführlicher Begründung zu den Verfassungsbeschwerden gegen § 217 StGB:

"A. § 217 StGB ist vom Bundesverfassungsgericht für mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig zu erklären. Eine verfassungskonforme Auslegung des Gesetzes zur Vermeidung der Nichtigerklärung ist nicht möglich.

B. § 217 StGB wird den in der Rechtsprechung des EGMR entwickelten Anforderungen zur Achtung der Selbstbestimmung am Lebensende und zur Suizidassistenz nicht gerecht."

  • In der mündlichen Stellungnahme vor dem Bundesverfassungsgericht am 16. April 2019 sagte Dr. Michael Schmidt-Salomon:

"Die Würde des Einzelnen ist dadurch bestimmt, dass der Einzelne über seine Würde bestimmt – nicht der Staat oder die Kirche.

Deshalb muss der Rechtsstaat dafür sorgen, dass die Pluralität der Würdedefinitionen der Bürgerinnen und Bürger in der Gesetzgebung berücksichtigt wird. So muss der Staat es einem strenggläubigen Katholiken ermöglichen, den Überzeugungen von Papst Johannes Paul II. zu folgen, der meinte, das Leben sei ein "Geschenk Gottes", über das der Mensch nicht verfügen dürfe. Ebenso muss der Gesetzgeber es aber auch einem Anhänger der Philosophie Friedrich Nietzsches erlauben, "frei zum Tode und frei im Tode" zu sein…"

Die vollständige mündliche Stellungnahme im Wortlaut, hier: https://www.giordano-bruno-stiftung.de/217-stgb-dient-nicht-lebensschutz-sondern-lebensschuetzern