Der Fall Kristina Hänel: Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
Mit Beschluss vom 10. Mai 2023 hat das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde im Fall Kristina Hänel nicht zur Entscheidung angenommen.
Der Senat geht zwar in dem Nichtannahmebeschluss auf die seitens der Beschwerdeführerin vorgetragenen Gesichtspunkte ein und stellt seine divergierende Rechtsansicht dar, allerdings besteht auch Anlass zu Kritik.
Das BVerfG lehnt es u.a. ab, die Verfassungsmäßigkeit von Art. 316n EGStGB inzident zu prüfen. Durch dieses Gesetz wurden die aufgrund des bis 2022 geltende § 219a StGB ergangenen strafgerichtlichen Urteile aufgehoben. Gleichwohl bringt der Senat deutlich zum Ausdruck, dass selbst im Falle eines etwaigen erfolgreichen Normenkontrollverfahrens gegen Art. 316n EGStGB zu erwarten ist, dass die aufgehobenen Verurteilungen nicht wieder aufleben. In dem Beschluss heißt es in Rn. 23:
"Es spricht sehr viel dafür, dass eine solche Rechtsfolge im Hinblick auf rechtsstaatliche Grundsätze, insbesondere den Vertrauensschutz der von der Aufhebung der strafgerichtlichen Verurteilungen Begünstigten, ausgeschlossen wäre. Für den Fall der Verfassungswidrigkeit des Art. 316n EGStGB käme daher wohl allein eine Unvereinbarerklärung der Norm in Betracht, die die Aufhebung der betroffenen strafgerichtlichen Urteile unberührt ließe."
Bei der Prüfung des Rechtsschutzinteresses blendet der Senat einen entscheidenden Punkt aus. Zu dem seitens der Beschwerdeführerin geltend gemachten Rehabilitationsinteresse ist lediglich zu lesen (Hervorhebungen durch das ifw):
"Der Gesetzgeber hat durch den Erlass von Art. 316n Abs. 1 Nr. 1 EGStGB die gegen die Beschwerdeführerin ergangenen strafgerichtlichen Entscheidungen aufgehoben. Für den Eintritt dieser Rechtsfolge spielt es keine Rolle, ob das Aufhebungsgesetz verfassungsmäßig ist. Mit der Aufhebung der strafgerichtlichen Verurteilung der Beschwerdeführerin und der zugrundeliegenden Strafnorm des § 219a StGB wurde die Beschwerdeführerin umfassend rehabilitiert. Dies entspricht auch der erklärten Absicht des Gesetzgebers. Wie der Begründung zum Gesetzentwurf zu entnehmen ist (BTDrucks 20/1635, S. 11 f.), war sich der Gesetzgeber bei Erlass des Art. 316n EGStGB bewusst, dass die nachträgliche Aufhebung von rechtskräftigen Gerichtsurteilen durch den Gesetzgeber eine Maßnahme darstellt, die in einem Rechtsstaat besonderer Rechtfertigung bedarf. Diese Rechtfertigung hat er vorliegend ausdrücklich aus einem seiner Ansicht nach bestehenden Rehabilitierungsauftrag für die nach § 219a StGB Verurteilten abgeleitet. Insofern darf sich die Beschwerdeführerin darauf berufen, keine verurteilte Straftäterin mehr zu sein. Welche zusätzliche Rehabilitationswirkung von einer verfassungsgerichtlichen Feststellung der Verfassungswidrigkeit des § 219a StGB ausgehen sollte, erschließt sich daher nicht."
Diese Argumentation überzeugt nicht. Schließlich liegt auf der Hand, dass die Aufhebung des Gesetzes und der Urteile aufgrund der politischen Entscheidung der Legislative nicht bedeutet, dass die Bestrafung der Beschwerdeführerin verfassungswidrig war.
Eine solche Feststellung kann die gesetzgebende Gewalt auch gar nicht vornehmen; diese Bewertung bleibt ausschließlich dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten. Die gesetzlichen Änderungen bedeuten lediglich, dass ein anders zusammengesetztes Parlament die Dinge anders gesehen hat als die Abgeordneten zuvor. Insoweit besteht daher das geltend gemachte Rehabilitationsinteresse und damit ein anhaltendes Rechtsschutzbedürfnis.
Bestehen bleibt nämlich eine Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts der Beschwerdeführerin: Die nicht vom Bundesverfassungsgericht "kassierte" Verurteilung impliziert, Frau Hänel habe sich in einer Weise verhalten, die nach einer zur Tatzeit gültigen Vorschrift strafbar gewesen sei, also nach der Wertung des diese Norm erlassenden Parlaments Strafe verdiene, mithin nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein besonders sozialschädliches Verhalten darstelle; und auch die mit dem Fall befassten Strafgerichte teilen diese Bewertung, denn sie haben den Fall nicht dem Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG zur Prüfung vorgelegt, halten die Norm des § 219a StGB sowie die Verurteilung also nicht für verfassungswidrig.
Mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist der Rechtsfall Hänel abgeschlossen, aber bedauerlicherweise bleibt die Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 219a StGB offen.
Interessant wäre eine solche verfassungsgerichtliche Bewertung auch im Hinblick auf die aktuelle Debatte um die Neuregelung der Gesetze um den Schwangerschaftsabbruch gewesen.
ifw-Direktoriumsmitglied Michael Schmidt-Salomon hat in seiner Stellungnahme "Schwangerschaftsabbruch im liberalen Rechtsstaat" darauf hingewiesen, dass Kristina Hänels Verfassungsbeschwerde den Karlsruher Richterinnen und Richtern die Chance böte, "das höchste deutsche Gericht von dem Makel zweier verfassungswidriger Urteile" (nämlich den BVerfG-Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch aus den Jahren 1975 und 1993) zu befreien, "die ein kirchlich geprägtes ‚Sittengesetz‘ höher gewichteten als die Selbstbestimmungsrechte der Frau". Diese Chance hat das Bundesverfassungsgericht nicht genutzt.