§ 219a StGB und Aufklärung über die ärztliche Dienstleistung des Schwangerschaftsabbruchs: Der Fall der Ärztin Kristina Hänel

Sachverhalt

Auf der Webseite der Ärztin Kristina Hänel befindet sich in ihrem Leistungsspektrum unter der Rubrik "Frauengesundheit" das Wort "Schwangerschaftsabbruch". Nach Angabe einer E-Mailadresse können Informationen zu einem legalen Schwangerschaftsabbruch abgerufen werden. Die Informationen der Ärztin enthalten Hinweise auf die Gesetzeslage und auf drei Methoden des Schwangerschaftsabbruchs, welche in der Praxis angeboten werden. Informiert wird über die Durchführung des Schwangerschaftsabbruchs, die erforderlichen Vorbereitungsmaßnahmen und mögliche Nebenwirkungen, Komplikationen sowie das Verhalten nach dem Abbruch. In einer Stellungnahme vom 23. März 2017 führt die Landesärztekammer Hessen aus, dass Frau Hänel mit den sachlichen Informationen auf ihrer Webseite nicht gegen § 27 der Berufsordnung für Ärzte verstößt. Auf eine Anzeige eines Dritten wurde Frau Hänel von der Staatsanwaltschaft Gießen nach § 219a StGB angeklagt. Die Anklage wird mit einem Verstoß gegen das Verbot, öffentlich die ärztliche Dienstleistung des Schwangerschaftsabbruchs anzubieten, begründet. Laut Staatsanwaltschaft Gießen genüge nach § 219a Abs. 1 StGB bereits die "Information" über die Durchführung eines Schwangerschaftsabbruches zur Erfüllung des objektiven Tatbestandes des "Anbietens". Im Verlauf des Verfahrens änderte sich die Rechtslage. Mit Wirkung zum 29. März 2019 hat der Gesetzgeber § 219a StGB um einen Absatz 4 ergänzt.

Verfahrensstand (inzwischen abgeschlossen)

Am 24. November 2017 verurteilt das Amtsgericht Gießen Kristina Hänel wegen Verstoßes gegen § 219a Abs. 1 StGB zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 150 Euro (AG Gießen, 24.11.2017 - 507 Ds - 501 Js 15031/15).

Das Landgericht Gießen bestätigt das Urteil des Amtsgerichts am 12. Oktober 2018. Es ist eine "erfolgreiche Niederlage", wie das damals schon in das Verfahren involvierte ifw in seinem Prozessbericht formuliert.Hänels Verteidiger, Rechtsanwalt Karlheinz Merkel, hatte im Vorfeld der Verhandlung beantragt, das Verfahren auszusetzen und eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen. Obwohl das Landgericht Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Norm äußert, entscheidet es sich gegen eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht zur Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG (LG Gießen, 12.10.2018 - 3 Ns 406 Js 15031/15).

Die Revision Hänels vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main führt am 26. Juni 2019 zu einer Aufhebung des Urteils des Landgerichts Gießen. Das Oberlandesgericht entscheidet, dass das Urteil aufgrund der zwischenzeitlich eingetretenen Gesetzesänderung keinen Bestand habe, und verweist den Fall zurück an das Landgericht Gießen (OLG Frankfurt, 26.06.2019 - 1 Ss 15/19).

Am 12. Dezember 2019 wird Hänel vom Landgericht Gießen nach dem seit März 2019 gültigen § 219a StGB verurteilt (LG Gießen, 12.12.2019 - 4 Ns 406 Js 15031/15).

Am 22. Dezember 2020 verwirft das Oberlandesgericht Frankfurt am Main die Revision Hänels. Das Oberlandesgericht argumentiert, dass der Gesetzgeber jedenfalls mit der Ergänzung des § 219a Abs. 4 StGB im praktischen Ergebnis auch die bloß sachliche Information über das "Ob" und das "Wie" des Schwangerschaftsabbruchs gemäß § 219a Abs. 1 StGB unter Strafe gestellt hat (OLG Frankfurt, 22.12.2020 - 1 Ss 96/20). Damit ist das Urteil gegen Hänel rechtskräftig. Hänel entfernt daraufhin die Informationen von ihrer Webseite, um Strafen durch weitere Verurteilungen zu vermeiden. Verschiedene Initiativen, die selbst keine Schwangerschaftsabbrüche durchführen, haben sodann Informationen im Internet zu Schwangerschaftsabbrüchen bereitgestellt, u.a. www.abtreibung-info.de; https://doctorsforchoice.de/unsere-arbeit/information/schwangerschaftsabbruch; www.fragdenstaat.de/aktionen/219a.

Nach der Zustellung des Urteils am 19. Januar 2021 legt Hänel am 19. Februar 2021 Verfassungsbeschwerde ein. Als Prozessbevollmächtigte benennt sie den Rechtsanwalt Ali B. Norouzi, den Strafrechtsprofessor und ifw-Beirat Reinhard Merkel und die Verfassungsrechtsprofessorin Frauke Brosius-Gersdorf.

Eine weitere Verfassungsbeschwerde wird in Karlsruhe bereits im Dezember 2019 von der Ärztin Bettina Gaber eingereicht (Az 2 BvR 290/20).

Das Institut für Weltanschauungsrecht (ifw) unterstützt Kristina Hänel weiterhin in dem Verfahren.

Am 24. Juni 2022 streicht der Bundestag sodann § 219a StGB ersatzlos. Der Bundestag beschließt außerdem, dass alle Urteile gegen Ärzt:innen, die aufgrund von § 219a StGB seit dem 3. Oktober 1990 verurteilt worden waren, aufgehoben und laufende Verfahren eingestellt werden.

Damit ist zwar ein wichtiges rechtspolitisches Ziel von Kristina Hänel erreicht, aber naturgemäß noch nicht miterklärt, dass § 219a StGB verfassungswidrig gewesen ist, weshalb die Verfassungsbeschwerde von Kristina Hänel noch anhängig ist und weiter vom ifw unterstützt wird.

Die Bundesregierung hat zudem wie angekündigt inzwischen eine Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin eingesetzt.

Mit Beschluss vom 10. Mai 2023 hat das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde im Fall Kristina Hänel nicht zur Entscheidung angenommen. Der Senat geht zwar in dem Nichtannahmebeschluss auf die seitens der Beschwerdeführerin vorgetragenen Gesichtspunkte ein und stellt seine divergierende Rechtsansicht dar, allerdings besteht auch Anlass zu Kritik.

Das BVerfG kehnt es u.a. ab, die Verfassungsmäßigkeit von Art. 316n EGStGB inzident zu prüfen. Durch dieses Gesetz wurden die aufgrund des bis 2022 geltende § 219a StGB ergangenen strafgerichtlichen Urteile aufgehoben. Gleichwohl bringt der Senat deutlich zum Ausdruck, dass selbst im Falle eines etwaigen erfolgreichen Normenkontrollverfahrens gegen Art. 316n EGStGB zu erwarten ist, dass die aufgehobenen Verurteilungen nicht wieder aufleben. In dem Beschluss heißt es in Rn. 23:

"Es spricht sehr viel dafür, dass eine solche Rechtsfolge im Hinblick auf rechtsstaatliche Grundsätze, insbesondere den Vertrauensschutz der von der Aufhebung der strafgerichtlichen Verurteilungen Begünstigten, ausgeschlossen wäre. Für den Fall der Verfassungswidrigkeit des Art. 316n EGStGB käme daher wohl allein eine Unvereinbarerklärung der Norm in Betracht, die die Aufhebung der betroffenen strafgerichtlichen Urteile unberührt ließe."

Bei der Prüfung des Rechtsschutzinteresses blendet der Senat einen entscheidenden Punkt aus. Zu dem seitens der Beschwerdeführerin geltend gemachten Rehabilitationsinteresse ist lediglich zu lesen (Hervorhebungen durch das ifw):

"Der Gesetzgeber hat durch den Erlass von Art. 316n Abs. 1 Nr. 1 EGStGB die gegen die Beschwerdeführerin ergangenen strafgerichtlichen Entscheidungen aufgehoben. Für den Eintritt dieser Rechtsfolge spielt es keine Rolle, ob das Aufhebungsgesetz verfassungsmäßig ist. Mit der Aufhebung der strafgerichtlichen Verurteilung der Beschwerdeführerin und der zugrundeliegenden Strafnorm des § 219a StGB wurde die Beschwerdeführerin umfassend rehabilitiert. Dies entspricht auch der erklärten Absicht des Gesetzgebers. Wie der Begründung zum Gesetzentwurf zu entnehmen ist (BTDrucks 20/1635, S. 11 f.), war sich der Gesetzgeber bei Erlass des Art. 316n EGStGB bewusst, dass die nachträgliche Aufhebung von rechtskräftigen Gerichtsurteilen durch den Gesetzgeber eine Maßnahme darstellt, die in einem Rechtsstaat besonderer Rechtfertigung bedarf. Diese Rechtfertigung hat er vorliegend ausdrücklich aus einem seiner Ansicht nach bestehenden Rehabilitierungsauftrag für die nach § 219a StGB Verurteilten abgeleitet. Insofern darf sich die Beschwerdeführerin darauf berufen, keine verurteilte Straftäterin mehr zu sein. Welche zusätzliche Rehabilitationswirkung von einer verfassungsgerichtlichen Feststellung der Verfassungswidrigkeit des § 219a StGB ausgehen sollte, erschließt sich daher nicht."

Diese Argumentation überzeugt nicht. Schließlich liegt auf der Hand, dass die Aufhebung des Gesetzes und der Urteile aufgrund der politischen Entscheidung der Legislative nicht bedeutet, dass die Bestrafung der Beschwerdeführerin verfassungswidrig war.

Eine solche Feststellung kann die gesetzgebende Gewalt auch gar nicht vornehmen; diese Bewertung bleibt ausschließlich dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten. Die gesetzlichen Änderungen bedeuten lediglich, dass ein anders zusammengesetztes Parlament die Dinge anders gesehen hat als die Abgeordneten zuvor. Insoweit besteht daher das geltend gemachte Rehabilitationsinteresse und damit ein anhaltendes Rechtsschutzbedürfnis.

Bestehen bleibt nämlich eine Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts der Beschwerdeführerin: Die nicht vom Bundesverfassungsgericht "kassierte" Verurteilung impliziert, Frau Hänel habe sich in einer Weise verhalten, die nach einer zur Tatzeit gültigen Vorschrift strafbar gewesen sei, also nach der Wertung des diese Norm erlassenden Parlaments Strafe verdiene, mithin nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein besonders sozialschädliches Verhalten darstelle; und auch die mit dem Fall befassten Strafgerichte teilen diese Bewertung, denn sie haben den Fall nicht dem Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG zur Prüfung vorgelegt, halten die Norm des § 219a StGB sowie die Verurteilung also nicht für verfassungswidrig.

Mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist der Rechtsfall Hänel abgeschlossen, aber bedauerlicherweise bleibt die Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 219a StGB offen.

Interessant wäre eine solche verfassungsgerichtliche Bewertung auch im Hinblick auf die aktuelle Debatte um die Neuregelung der Gesetze um den Schwangerschaftsabbruch gewesen.

ifw-Direktoriumsmitglied Michael Schmidt-Salomon hat in seiner Stellungnahme "Schwangerschaftsabbruch im liberalen Rechtsstaat" darauf hingewiesen, dass Kristina Hänels Verfassungsbeschwerde den Karlsruher Richterinnen und Richtern die Chance böte, "das höchste deutsche Gericht von dem Makel zweier verfassungswidriger Urteile" (nämlich den BVerfG-Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch aus den Jahren 1975 und 1993) zu befreien, "die ein kirchlich geprägtes ‚Sittengesetz‘ höher gewichteten als die Selbstbestimmungsrechte der Frau". Diese Chance hat das Bundesverfassungsgericht nicht genutzt.

Rechtliche Problematik

Nach Auffassung des Instituts für Weltanschauungsrecht (ifw) ist § 219a StGB verfassungswidrig. Unter anderem macht das ifw geltend, dass religiöse, aber auch philosophisch begründete Tabuisierungen von Schwangerschaftsabbrüchen und der Information über die Durchführung selbiger in einem säkularen Staat keine Legitimationsgrundlage für mit Kriminalstrafe bewehrte Verbote sein können. Mit dem Erlass einer moralisierenden, auf die Durchsetzung einer religiös-weltanschaulich bestimmten Sittlichkeit bezogenen Strafnorm, überschreitet der Staat seine Kompetenzen. Im Vorfeld der ersten Verurteilung Hänels durch das Amtsgericht Gießen hatte Jacqueline Neumann für das ifw im November 2017 die Strafnorm als verfassungswidrig bewertet.

Am 27. Juni 2018 legt ifw-Beirat Reinhard Merkel eine Stellungnahme  für eine öffentliche Anhörung im Ausschuss des Deutschen Bundestages für Recht und Verbraucherschutz vor und fordert die Abgeordneten zur Streichung des § 219a StGB auf.

In einer ifw-Stellungnahme vom 1. Februar 2019 zum Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) für ein Gesetz zur Verbesserung der Information über einen Schwangerschaftsabbruch (Az. 4040/1-0-25 432/2018) empfehlen Jacqueline Neumann und Michael Schmidt-Salomon eine grundlegende Reform der Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch und im Rahmen dessen eine Streichung des § 219a StGB.

Im August 2020 stellt Frauke Brosius-Gersdorf in einem Rechtsgutachten, das mit der Verfassungsbeschwerde eingereicht wird, die Verfassungswidrigkeit des seit März 2019 gültigen § 219a StGB fest. Demnach verstößt die Strafnorm gegen die Grundrechte der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 GG) der Ärztinnen und Ärzte, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen. Der Eingriff in die Grundrechte der Berufsfreiheit und der Meinungsfreiheit ist nicht gerechtfertigt, weil das Verbot sachlicher Informationen von Ärztinnen und Ärzten über die Art und Weise (insbesondere: die Methoden) der von ihnen durchgeführten Schwangerschaftsabbrüche nicht geeignet ist, das ungeborene Leben zu schützen. Außerdem ist der Eingriff unverhältnismäßig im engeren Sinne, weil § 219a Abs. 1 i. V. m. Abs. 4 StGB gegen die Grundrechte schwangerer Frauen verstößt, die für ihre Entscheidung über einen Abbruch auf die Information angewiesen sind, welche Ärztinnen und Ärzte mit welchen Methoden Abbrüche vornehmen (Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG; Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 GG).

Weitere Ausführungen zur rechtlichen Problematik können den vorgenannt verlinkten Urteilen und Stellungnahmen entnommen werden. Die Urteile finden sich zudem zum Download in der Rubrik "Dokumente" unterhalb dieses Textes.

Das ifw dankt Kristina Hänel für das freundliche Einverständnis zur Veröffentlichung der Urteile auf der ifw-Webseite.