Rezension zu Groschopp / Müller: Aus der Ethik eine Religion machen

von Hartmut Kreß

Seit Langem fehlt eine umfassende Darstellung über die Deutsche Gesellschaft für ethische Kultur (DGEK), die in den 1890er Jahren gegründet worden ist. In ihrer Gründung spiegelt sich nicht nur der Aufstieg der Ethik zu einer Leitdisziplin der modernen Gesellschaft. Vielmehr stellt die DGEK einen wichtigen Baustein der Geistesgeschichte des Humanismus und säkularer Bewegungen dar. Bislang lagen zu dieser Organisation nur kürzere Beiträge vor, z.B. aus der Feder des Philosophiehistorikers Klaus Christian Köhnke. Die beiden Verfasser des hier zu besprechenden Bandes, der Kulturwissenschaftler und frühere Präsident des Humanistischen Verbands Deutschland Horst Groschopp sowie der Historiker Eckhard Müller, haben zur Geschichte der DGEK aufwändig recherchiert und zahlreiche Archivmaterialien ausgewertet. Auf dieser Basis haben sie ein gründliches, sehr informatives Buch geschrieben.

Allerdings geht aus dem Buchtitel – zumindest auf den ersten Blick – nicht klar hervor, dass sich die Publikation der DGEK widmet. Er lautet "Aus der Ethik eine Religion machen". Hierbei handelt es sich um ein Zitat des in der DGEK engagierten Soziologen Ferdinand Tönnies (1855–1936), dessen Sinn sich nicht leicht erschließt und das sogar missverständlich ist. Den eigentlichen Gegenstand des Buches, die DGEK, benennt erst die Unterzeile seines Untertitels: "Zur Geschichte der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur (Oktober 1892 bis Januar 1937)". Der übergeordnete Untertitel – "Der praktische Humanismus einer sozialliberalen Kulturbewegung" – soll die ideelle Stoßrichtung der DGEK charakterisieren. Auf sie zielte auch das Zitat Tönnies‘ ab. Tönnies wollte ins Licht rücken, dass in der modernen Kultur die Ethik die Leerstelle ausfüllen müsse, die die Religion hinterlasse, weil Letztere ihre frühere Ausstrahlungskraft und Bindungswirkung verloren habe. Um das Profil einer die Religion ersetzenden ethischen Kultur rang die DGEK mehrere Jahrzehnte lang, bis sie sich 1937 im NS-Staat auflösen musste.

Über die Gründung der DGEK in den Jahren 1892/1893 berichtet das Buch mit vielen Einzelheiten. Bei dieser Gelegenheit würdigt es auch das akademische Werk, genauer: die Schriften zur Ethik ihres an den Rollstuhl gefesselten Wegbereiters, des Philosophen Georg von Gizycki (1851–1895). Ausführlich schildert es die gesellschaftsbezogenen und gesellschaftskritischen Diskussionen, die in der DGEK über viele Jahre hinweg geführt worden sind. Zugleich werden ihre internen Kontroversen wiedergegeben. Im Jahr 1895 distanzierte sie sich mehrheitlich von einer Programmatik, für die sich von Gizycki eingesetzt hatte: aktive Unterstützung der Sozialdemokratie und eines sozialistischen Gesellschaftsbildes. Vier Jahre später, 1899, schlug Ferdinand Tönnies vor, die Gesellschaft in "Verein für Sozialethik" umzubenennen, um hierdurch ihr alltagsweltliches Sozialengagement zu unterstreichen. Er setzte sich hiermit nicht durch (S. 138). Ein "Verein für soziale Ethik" entstand erst im Jahr 1906 losgelöst von der DGEK (S. 155). Von der Frage der Namensgebung abgesehen verhielt es sich allerdings so, dass die DGEK in Berlin und in anderen Städten, etwa Breslau, Frankfurt/M. oder Freiburg­ in der Sozial- und Kulturarbeit konkret aktiv wurde. Sie organisierte z.B. Auskunftsstellen für Wohlfahrtspflege und für Rechtsprobleme sozial Hilfsbedürftiger. Außerdem richtete sie öffentliche Bibliotheken ("Lesehallen") ein, von denen Arbeiter und Handwerker profitieren sollten (S. 74, S. 97 ff.).

Auf den Jahresversammlungen der DGEK, in sonstigen Veranstaltungen und in ihrer Zeitschrift "Ethische Kultur" fanden Grundsatzdebatten über die Gestaltung von Kultur und Gesellschaft statt. Dabei widersetzte sich die DGEK immer wieder den gedanklichen, politischen und gesellschaftlichen Strömungen, die im Kaiserreich vorherrschten. Das vorliegende Buch entfaltet, mit welch hohem Nachdruck und mit welchen Argumenten sie sich gegen Rassismus und gegen Antisemitismus wandte und dass sie pazifistische sowie antikolonialistische Positionen vertrat. Zudem war sie der Frauenbewegung eng verbunden. Der Frauenanteil unter ihren Mitgliedern war sehr hoch (z.B. S. 57). Gründungsmitglieder der DGEK waren die Schriftstellerin Gertrud Simmel (1864–1938), die Frau des Philosophen und Sozialwissenschaftlers Georg Simmel, die unter dem Pseudonym Marie Luise Enckendorff publizierte, oder die spätere Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner (1843–1914) (S. 21, S. 55). Für Frauen, die Vereinsmitglied waren, sah die DGEK von Anfang an das aktive und das passive Wahlrecht vor (S. 64), was damals völlig unüblich war. Gleicherweise waren sehr viele Juden bei ihr Mitglied. Im Jahr 1892 sollen – so haben die beiden Autoren recherchiert – "mindestens dreißig Prozent" jüdisch gewesen sein (S. 57 Fn. 156). In den Jahren 1892 und 1893 gehörte ihrem Hauptvorstand der jüdische Philosoph Hermann Cohen (1842–1918) an (S. 55, S. 277 f.). Cohen war ein prominenter Vordenker der Kant-Renaissance des 19. Jahrhunderts gewesen.

Über all dies und über zahlreiche weitere Sachverhalte ist in dem Buch viel nachzulesen. Nachfolgend werden vier Punkte genannt, die sich dem Rezensenten bei der Lektüre des Buches nahelegen.

1. Erhellend könnte es sein, die DGEK im Vergleich mit dem Evangelisch-Sozialen Kongress zu betrachten, der praktisch zeitgleich, nämlich im Jahr 1890 gegründet worden war. Der Evangelisch-Soziale Kongress, der bis 1941 jährlich zusammentrat, war im Kaiserreich ein Sprachrohr sozialer Ideen des damaligen Protestantismus. Ebenso wie die DGEK hatte er – auch zum Verhältnis zur Sozialdemokratie und zum Sozialismus – harte interne Richtungskämpfe zu bewältigen. Es gelang ihm, als Redner prominente Zeitgenossen, z.B. Max Weber, zu gewinnen. Allerdings war er in den 1890er Jahren durch den massiven christlichen Antisemitismus belastet; und er blieb äußerst zurückhaltend, was die Beteiligung von Frauen anbelangte. Im Jahr 1894 wurde es zur Streitfrage, ob Frauen bei seinen Tagungen überhaupt das Wort ergreifen dürften.[1] Anders als die DGEK beließ der Evangelisch-Soziale Kongress es bei – oftmals interessanten – theoretischen Debatten zur Sozialpolitik. Konkrete Projekte der Sozialhilfe und Sozialarbeit, die die DGEK in Gang brachte, waren außerhalb seines Blickfelds. Würde man den Evangelisch-Sozialen Kongress und die DGEK systematisch miteinander vergleichen, dann träten das intellektuelle Profil der DGEK, ihre pointierte Kultur- und Gesellschaftskritik, ihr Bemühen um Kooperation mit Ethikern und mit Ethikorganisationen in anderen, westlichen Ländern sowie ihre sozialen Bemühungen nochmals verstärkt hervor.

2. Das Buch leistet einen Beitrag zur Begriffs- und Geistesgeschichte der Sozialethik. Das Wort "Sozialethik" ist, soweit bekannt, 1868 von einem baltischen lutherischen Gelehrten, Alexander von Oettingen (1827–1905), geprägt worden. Im 20. Jahrhundert, vor allem nach 1945, sind in deutschen Universitäten eigene Sozialethik-Lehrstühle eingerichtet worden, insbesondere in theologischen Fakultäten. Das vorliegende Buch zeigt auf, in welch hohem Maß die DGEK und die ihr verbundenen Personen an "Sozialethik" interessiert waren. Die Zeitschrift der DGEK "Ethische Kultur" trug seit 1894 den Untertitel "Wochenschrift für sozial-ethische Reformen" (S. 117). Ein Impulsgeber der DGEK war der jüdische Philosoph Felix Adler (1851–1933) gewesen, der in New York in der Columbia University Sozialethik lehrte (S. 46). Für den 1894 verstorbenen Wegbereiter der Gesellschaft Georg von Gizycki war in seinen Berliner Vorlesungen die soziale Ethik / Sozialethik ebenfalls ein thematischer Schwerpunkt gewesen (S. 91). Mit einer ganzen Reihe von Hinweisen erinnert das vorliegende Buch an die Impulse, die im Vorfeld und im Umfeld der DGEK für die heutige akademische Disziplin der Sozialethik geleistet worden sind.

3. Voranstehend wurde bereits erwähnt, dass in der DGEK in beträchtlicher Anzahl Juden mitwirkten. Das von Groschopp / Müller verfasste Buch spricht diesen Sachverhalt wiederholt an. Zugleich erinnert es daran, dass im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zahlreiche jüdische Sozial- und Wohlfahrtseinrichtungen entstanden, wobei diese Initiativen keinesfalls nur Juden, sondern allen Unterstützungsbedürftigen zugutekommen sollten. Derartige Bemühungen des Judentums konvergierten mit dem Interesse der DGEK an Sozial- und Wohlfahrtstätigkeit (S. 106 ff.). Kirchliche und antisemitische Strömungen bemühten sich, das jüdische soziale Engagement an den Rand zu rücken und es letztlich zu unterdrücken. Indem das Buch die namhafte Beteiligung von Juden in der DGEK schildert, beleuchtet es einen bislang zu wenig beachteten Ausschnitt aus der Geschichte des neuzeitlichen deutschen Judentums, das im NS-Staat sein tragisches Ende fand.

4. Zu den Themen, mit denen sich die DGEK kritisch beschäftigte, gehörten der religiöse Zuschnitt des Schulsystems in Deutschland – Konfessionsschulen sind in der Bundesrepublik Deutschland erst Ende der 1960er Jahre grundsätzlich abgeschafft worden! – und die Problematik des konfessionell erteilten Religionsunterrichts. In der DGEK blieb es strittig, ob ein neutraler Moral- und Religionskundeunterricht neben den konfessionellen Religionsunterricht treten oder ob er ihn ersetzen solle oder inwieweit man statt eines Schulfaches "Ethik" einen weltanschaulichen Lebenskundeunterricht präferieren solle. Immerhin: Im Jahr 1901 beschloss die jährliche DGEK-Versammlung, dass "die Einführung eines von religiösen Voraussetzungen unabhängigen Moralunterrichtes in die öffentliche Schule" anzustreben sei (zit. S. 65). Für die Konzeption einer weltlichen Schule und für Alternativen zum konfessionellen Religionsunterricht setzte sich namentlich der Freidenker Rudolph Penzig (1855–1931) ein, der seit 1893 Sekretär der DGEK war. Obwohl er auf die DGEK jahrzehntelang großen Einfluss ausübte – seit 1912 als Vorsitzender –, konnte er seine Ideen zur weltlichen Schule in ihr nur teilweise durchsetzen. Daher rief er im Jahr 1906 als Ausgründung aus der DGEK den "Deutschen Bund für weltliche Schule und Moralunterricht" ins Leben (S. 122). Über ihn hat einer der beiden Autoren des vorliegenden Bandes, Horst Groschopp, eine lesenswerte Lebens- und Werkgeschichte publiziert: Rudoph Penzig. Atheist, Freimaurer und Humanist, Alibri Verlag 2022. Darüber hinaus hat Groschopp in einem anderen Buch wichtige Debatten des 19./20. Jahrhunderts zur weltlichen Schule, zum Schulfach Lebenskunde und zum Ethikunterricht wiedergegeben.[2] Auf jeden Fall ist es bemerkenswert, dass sich die DGEK im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert mit den kultur- und bildungspolitisch sensiblen Themen "weltliche Schule" sowie "Religions- versus Ethikunterricht" eindringlich auseinandersetzte. Zu ihnen besteht in der Bundesrepublik Deutschland bis heute Klärungs- und politischer Entscheidungsbedarf.[3] 

Diese Schlaglichter dürften illustriert haben, dass Groschopp / Müller mit ihrem Buch einen inhaltsreichen Beitrag zur neueren Geschichte humaner bzw. humanistischer Ideen, der Ethik bzw. der Sozialethik und der säkularen Kulturdeutung geleistet haben. Im Anhang des Buches sind Quellentexte abgedruckt, durch die die Geschichte der DGEK zusätzlich erhellt wird.

[1] Vgl. Gottfried Kretschmar, Der Evangelisch-Soziale Kongreß. Der Protestantismus und die soziale Frage, Stuttgart 1972, S. 24 ff.

[2] Horst Groschopp, Weltliche Schulen und Lebenskunde. Dokumente und Texte zur Hundertjahrfeier ihrer praktischen Innovation 1920, Aschaffenburg 2020; hierzu eine Rezension von H. Kreß online https://weltanschauungsrecht.de/meldung/rezension-groschopp-weltliche-sc... (Abruf 29.8.2024).

[3] Hierzu aus Sicht des Verfassers dieser Rezension: H. Kreß, Religionsunterricht oder Ethikunterricht? Entstehung des Religionsunterrichts – Rechtsentwicklung und heutige Rechtslage – politischer Entscheidungsbedarf, Baden-Baden 2022; das Buch ist open access verfügbar.

Horst Groschopp, Eckhard Müller, Aus der Ethik eine Religion machen. Der praktische Humanismus einer sozialliberalen Kulturbewegung. Zur Geschichte der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur (Oktober 1892 bis Januar 1937). Aschaffenburg 2024 (Alibri), 350 S. ISBN 978 3 86569 397 6, € 34,-