Rezension zu Meier: Der Papst der Enttäuschungen

von Hartmut Kreß

Über das Pontifikat des derzeitigen Papstes Franziskus herrscht zunehmend Ernüchterung. Die hohen Erwartungen, der Papst bringe in der katholischen Kirche Änderungen in Gang, sind immer wieder schwer enttäuscht worden. Das vorliegende Buch enthält eine treffsichere Analyse, die aufzeigt, dass und warum der Papst an einer substanziellen Reform der katholischen Kirche nicht interessiert ist. Zugleich wird deutlich, wie fern er modernem westlichem aufgeklärtem Denken steht.

Der Autor des Buches, der Journalist Michael Meier, war viele Jahre lang im Schweizer Tages-Anzeiger für Kirchen- und Religionspolitik zuständig. Zu Papst Franziskus hat er einen gründlich recherchierten Band verfasst. Eingangs erinnert er daran, in welch hohem Maß der derzeitige Pontifex durch sein Auftreten und durch verschiedene Äußerungen die Erwartung erweckt hatte, er werde der Kirche neue Impulse verleihen. Dies betraf u.a. den Umgang mit Homosexualität, die innerkirchliche Rolle der Frau, die gemeinsame Eucharistie von Katholiken und Protestanten oder eine Dezentralisierung der katholischen Kirche und die Verlagerung von Entscheidungskompetenzen nach unten. Das Buch arbeitet auf, wie schmal bzw. wie ernüchternd die Bilanz des Papstes nach seiner langen, bisher weit mehr als zehnjährigen Amtszeit dann aber geblieben ist. Der Papst habe sich als "doppelzüngig" erwiesen. Ein Teilkapitel des Buches steht unter der Überschrift: "Die Konstante: Widersprüchlich, doppeldeutig" (S. 172).

Um eines der voranstehend aufgelisteten Themen hier beispielhaft aufzugreifen: Im Jahr 2013 hatte der Papst signalisiert, er werde der Desavouierung von Menschen mit gleichgeschlechtlicher Neigung und in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften durch die katholische Kirche ein Ende setzen. Auf einer Flugzeugreise äußerte er: "Wenn einer Gay ist, den Herrn sucht und guten Willen hat, wer bin dann ich, ihn zu verurteilen?" (zit. S. 20). Statt der erwarteten Liberalisierung ließ der Papst die Segnung homosexueller Paare durch seine Glaubenslehrekongregation am 15.3.2021 jedoch lehramtlich verurteilen (S. 39). Später gestattete er eine gewisse Öffnung – allerdings nur dem Schein nach. Am 18.12.2023 erlaubte der Vatikan, gleichgeschlechtlich lebende Menschen zu segnen. Dabei wurde die lehramtliche Verwerfung ("Sünde") aber unverändert beibehalten. Überdies wurde die Auflage erteilt, die Dauer des Segens, der keinesfalls dem gleichgeschlechtlichen Paar, sondern nur einer einzelnen homosexuellen Person zugesprochen werden dürfe, sei auf maximal "10 bis 15 Sekunden" zu begrenzen. Bei der Segnungshandlung sei Gott der Herr mit der Bitte anzurufen, der Gesegnete möge nach Gottes Willen leben (S. 42).

Indem das Buch derartige Sachverhalte dokumentiert, vermittelt es einen Eindruck davon, wie zwiespältig sich der Papst verhält. Die Belege, die das Buch zu seiner Doppelzüngigkeit beim Thema Homosexualität oder bei anderen Themen anführt, könnten noch breit ergänzt werden. Z.B. hat Franziskus in seinem Apostolischen Schreiben "Evangelii gaudium" die lehramtliche Verwerfung homosexueller Lebensführung zum Anlass genommen, zusätzlich auf der Grundsatzebene zu unterstreichen, dass "die Kirche auf der Existenz objektiver, für alle geltender moralischer Normen besteht".[1] Mit dieser markanten Formulierung erneuerte er gegenüber Staat und Gesellschaft den alten klerikalistischen Standpunkt, dass die angeblich "objektive" Naturrechtslehre der Kirche vor weltlichen und staatlichen Normen den Vorrang besitzen soll. Im Jahr 2024 wählte er auf einer Versammlung italienischer Bischöfe bezogen auf homosexuelle Personen ein dezidiert beleidigendes Wort. Nachdem dies bekannt wurde, beschönigten zahlreiche Pressestimmen den Vorfall. Daraufhin vermerkte die Frankfurter Allgemeine Zeitung befremdet: "Der mediale Aufschrei, der für die homophobe Ausfälligkeit … eigentlich fällig wäre, bleibt aus". Die FAZ zog den folgenden Vergleich: "Man stelle sich den Sturm der Entrüstung vor, ein als rechts oder auch nur als konservativ etikettierter Kleriker oder Politiker hätte vor 200 Leuten Homosexuelle als ‚Schwuchteln‘ tituliert".[2]

Solche Entgleisungen des Papstes sind im Übrigen nicht selten. Sie ereignen sich auch zu anderen Themen – man denke nur daran, dass er Schwangerschaftsabbrüche öffentlich als "Auftragsmord" diffamiert.[3]

Das vorliegende Buch verdeutlicht, dass die Doppelzüngigkeit des Papstes Methode hat. Regelmäßig stellt er zunächst Lockerungen der katholischen Doktrin in Aussicht. Danach verfährt er zögerlich und uneindeutig – etwa dadurch, dass er Gremien oder Synoden mit beratendem Charakter einberuft, um deren Empfehlungen dann beiseitezuschieben. Letzteres illustriert der Buchautor u.a. damit, dass der Heilige Vater für das Amazonasgebiet verheiratete Männer als Priester schließlich doch nicht zuließ (S. 74: "der Papst bläst die Revolution wieder ab") oder dass er eine gleichberechtigte Beteiligung von Frauen an bestimmten nichtpriesterlichen Leitungsämtern nur sehr eingeschränkt gestattete (S. 104: "Laien und Frauen an die Spitze – wirklich?").

Zusätzlich erwähnt das Buch anders gelagerten Zweifel. Es geht z.B. auf Halbherzigkeiten und gravierende Vertuschungen des Papstes bei der Aufklärung der schweren sexuellen Verfehlungen, des Missbrauchs in der katholischen Kirche ein (S. 49 ff., S. 58 ff.). Sodann wird beschrieben, wie reserviert sich der Papst nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine gegenüber dem angegriffenen Land verhalten hat und dass er den Aggressor Russland noch 2023 verbal verklärte: das "große Russland" besitzt "viel Menschlichkeit" (zit. S. 142). Hierbei setzte sich der Papst sogar über die katholische Lehrtradition hinweg, die die Selbstverteidigung eines angegriffenen Staates für gerechtfertigt hält. Die Zurückhaltung des Papstes gegenüber der Ukraine erklärt der Buchautor damit, dass dieser auf den russisch-orthodoxen Kirchenführer Kyrill Rücksicht nehmen wollte, der den Krieg religiös legitimiert hatte. Franziskus habe es als einen Höhepunkt seines Wirkens angesehen, dass er sich im Jahr 2016 mit Kyrill traf, um mit der russisch-orthodoxen Kirche "nach jahrhundertelanger Eiszeit ein Tauwetter herbeizuführen" (S. 139). In ihrer 2016 verabschiedeten Erklärung bekräftigten Kyrill und Franziskus ihre Übereinstimmung darin, dass gleichgeschlechtliche Lebensformen, Schwangerschaftsabbruch, künstliche Befruchtung oder Feminismus strikt abzulehnen seien (S. 140). Als Russland die Ukraine überfiel, wollte der Papst das neu erzielte Einvernehmen mit der russischen Orthodoxie offenkundig nicht aufs Spiel setzen.

Einen Kontrast zur Affinität Franziskus‘ zur russischen Orthodoxie bildet die Distanz, die er zu den liberaleren protestantischen Kirchen Europas wahrt. Das Buch schildert sein Desinteresse an ihnen bzw. seine Abneigung gegen sie (S. 163 ff.). Folgerichtig ließ er trotz gegenteiliger Vorankündigungen eine gemeinsame Eucharistiefeier von Protestanten und Katholiken in Deutschland nicht zu.

Es werden noch zahlreiche andere Einzelheiten der Amtsführung Franziskus‘ zur Sprache gebracht, die sich – wie das Buch gut aufzeigt – durch ihre Sprunghaftigkeit und durch ihren intransparenten, autoritären Stil auszeichnet. Der Buchautor schildert den Papst als wenig intellektuell (z.B. S. 180 f.; dort auch ein Hinweis auf seine gescheiterte Dissertation an der Jesuitenhochschule in Frankfurt/M.) und erwähnt seinen massiven Teufelsglauben. Seinerseits betont der Papst, der Heilige Geist lenke ihn. Hiervon abgesehen macht das Buch auf zwei Leitmotive der Amtsführung Franziskus‘ aufmerksam:

1. Theologisch orientiert sich der Papst an der Idee der pastoralen Barmherzigkeit (S. 23 ff.), der gemäß ein Priester im Einzelfall gegenüber einem Gläubigen Nachsicht und Milde walten lassen darf. Diese Barmherzigkeitsidee ist in der Spätantike und im Mittelalter von der orthodoxen und von der römisch-katholischen Kirche entwickelt worden. Kirchengeschichtlich bestand ihre Pointe darin, dass sie "nicht zum Nachteil der Wahrheiten des Glaubens verwandt werden" durfte.[4] Papst Franziskus nutzt sie, um situationsbedingt Nachsicht z.B. gegenüber gleichgeschlechtlich lebenden Menschen oder gegenüber Frauen zu bekunden, die ihren Schwangerschaftsabbruch als Sünde bereuen. Die theologische Konstruktion der Barmherzigkeit ermöglicht es ihm, sich gegebenenfalls menschenfreundlich und aufgeschlossen zu zeigen, ohne an der starren Lehrüberlieferung – Verurteilung der gleichgeschlechtlichen Lebensführung, Verbot des Schwangerschaftsabbruchs usw. – oder an den hierarchischen Strukturen der Kirche irgendeine Korrektur vornehmen zu müssen.

2. Der Buchautor bezeichnet den Papst immer wieder als "antiwestlich" oder als "nicht-westlich" und illustriert seine Einschätzung quer durch das Buch mit unterschiedlichen Hinweisen. Er gibt entsprechende Äußerungen des Papstes zu konkreten politischen Fragen wieder oder erinnert an seine Klage über den Werteverfall der europäischen und angloamerikanischen Welt, die neu evangelisiert werden müsse. Anders gelagert: Personalpolitisch habe der Papst dafür gesorgt, dass im Kardinalskollegium der globale Süden dominiere, dessen Volksfrömmigkeit er schätze (S. 87 ff.). Diesen spezifischen Frömmigkeitstypus kommentiert der Buchautor kritisch: "Die dortige Volksreligiosität orientiert sich eher an den Pfingst- und Freikirchen mit ihren charismatischen und magischen Praktiken. Bis hinauf zur Kirchenspitze ist sie geprägt von Machismo, Homophobie und Exorzismus" (S. 200). Außerdem thematisiert das Buch das gespaltene Verhältnis des Papstes zu den Menschenrechten, die sich der europäischen Aufklärung verdanken. Einerseits setze sich Franziskus für soziale Menschenrechte ein. Andererseits habe der Vatikan die UN-Erklärung der Menschenrechte oder die Europäische Menschenrechtskonvention nicht ratifiziert (S. 190). Bis heute verweigere Franziskus die innerkirchliche Umsetzung von Frauenrechten, von menschenrechtlichen Geboten des Kinderschutzes (S. 50) und von Nichtdiskriminierung.

Führt man sich die voranstehend aufgelisteten Aspekte vor Augen, spricht sehr viel dafür, den Papst als anti- oder zumindest als nichtwestlich zu charakterisieren. Aus Sicht des Rezensenten lässt sich diese Einschätzung noch präzisieren, indem zwischen einer Distanz des Papstes gegenüber dem Westen erstens in politischer und zweitens in geistig-kultureller Hinsicht unterschieden wird. Er steht europäischer und angelsächsischer Philosophie und dem Aufklärungsdenken fern, das individuelle Menschenrechte, namentlich das persönliche Selbstbestimmungsrecht einer/eines jeden betont und auf rationale Abwägungen abzielt.

Schließlich noch eine Schlussbemerkung. Der Titel des von Michael Meier geschriebenen Buches "Der Papst der Enttäuschungen" ähnelt dem Titel einer Publikation, die vor drei Jahren erschien: "Die Täuschung", verfasst von dem kritischen Kirchenrechtler Norbert Lüdecke. Auf Gesichtspunkte Lüdeckes nimmt Meier mehrfach ausdrücklich Bezug. Lüdecke hatte herausgearbeitet, dass die aktuellen Reformzusagen der deutschen katholischen Bischöfe auf eine Täuschung der Kirchenmitglieder hinauslaufen.[5] Das neue Buch ergänzt diese Analyse, indem es schlüssig entfaltet, dass Franziskus` Pontifikat an substanziellen Reformen desinteressiert ist. Darüber hinaus habe Franziskus durch seine Kardinalsernennungen die Weichen dafür gestellt, dass die Kirche auch in Zukunft keinen Reformpfad betreten wird (S. 199 ff.).

Man wird sehen, wie die deutschen Katholiken mit dem römischen Unwillen zur Reform zurechtkommen werden. Für die hiesige Religionspolitik und für das in der Bundesrepublik Deutschland geltende Religionsrecht ist es jedenfalls ein belastender Befund, dass die katholische Kirche ein Gegenüber darstellt, dessen hierarchische Spitze, das autoritativ weisungsbefugte zentrale römische Lehramt, doppelzüngig agiert und sich der Moderne verweigert.

[1] Papst Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii Gaudium, 24.11.2013, Nr. 64.

[2] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.5.2024, Das soll nicht homophob sein?, S. 15.

[3] Vgl. z.B. Neue Zürcher Zeitung, 4.7.2022, Nach Urteil in den USA: Papst vergleicht Abtreibung mit Auftragsmord, https://www.nzz.ch/panorama/papst-vergleicht-abtreibung-mit-auftragsmord... (Abruf 10.09.2024).

[4] Georg Galitis u.a., Glauben aus dem Herzen. Eine Einführung in die Orthodoxie, München 2000, S. 208.

[5] Norbert Lüdecke, Die Täuschung. Haben Katholiken die Kirche, die sie verdienen?, Darmstadt 2021. Eine Rezension des Buches findet sich auf der Website des ifw: https://weltanschauungsrecht.de/meldung/rezension-luedecke-die-taeuschung

Michael Meier, Der Papst der Enttäuschungen. Warum Franziskus kein Reformer ist, Verlag Herder (Freiburg i. Br.) 2024, 208 Seiten, ISBN 978-3-451-39716-5, € 20 ,-