Fehler in der Debatte über die Ablösung der Staatsleistungen

haupt-who-is-hu.jpg

Foto: Evelin Frerk

I. Historischer Rückblick

In der Debatte über die Ablösung der Staatsleistungen werden seitens der Politik und der Kirchen falsche und unbewiesene Behauptungen aufgestellt, die von führenden Politikern rezipiert werden. So gab etwa Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil mit Blick darauf, dass die Ablösung der Staatsleistungen "finanziell angemessen" sein müsse, zu bedenken, dass die Länder nicht die leiseste Idee hätten, wie "das zu wuppen ist".  

Aus dem Blick geraten scheint dabei, was eigentlich abgelöst werden soll:

Bei der Säkularisation der Kirchengüter im Jahre 1803 wurde den Kirchen nicht – wie immer wieder fälschlicherweise behauptet wird – eine Entschädigung oder ein Schadensersatz für die enteigneten Kirchengüter zugesichert oder versprochen. Weder der Sache noch dem Wortlaut nach, ist in den Dokumenten, namentlich im Reichsdeputationshauptschluss von 1803 (RHDS), von einer vollen oder teilweisen Entschädigung für den kirchlichen Vermögensverlust die Rede. Vielmehr sollten die Säkularisationsmaßnahmen dauerhaft und endgültig sein. Eine Entschädigung für enteignete Grundstücke wurde den Kirchen damals nicht versprochen oder auch nur in Aussicht gestellt.

Die in unterschiedlichem Umfang von den Ländern gezahlten Staatsleistungen, deren Ablösung das Grundgesetz unter Bezugnahme auf die Weimarer Reichsverfassung (WRV) seit 1919 befiehlt, beruhen auf Rechtstiteln (Gesetzen, Verträgen), die sich im 19. Jahrhundert höchst verschieden in den deutschen Ländern entwickelt hatten. Hintergrund der Regelung war die staatliche Religionsfürsorge in Zeiten der Industrialisierung und des Wachstums der Städte.  Die Staatsleistungen realisierten das Versprechen der Landesherren in § 35 RDHS, sich nach den kirchlichen Säkularisationsverlusten "der festen und bleibenden Ausstattung der Domkirchen […] und der Pensionen für die aufgehobene der Geistlichkeit" anzunehmen.

Mit der Revolution von 1919, der Abschaffung der Monarchien und damit des Staatskirchentums, mit der Trennung von Staat und Kirche, war jedoch die Basis für die staatliche Religionsfürsorge und damit für die Staatsleistungen entfallen. Diese sollten deshalb abgelöst werden. Die Kirchen sollten vollständig auf eigenen Beinen stehen, auch finanziell. Dafür wurde zugunsten der Kirchen das Recht auf Erhebung der Kirchensteuer – mit staatlicher Hilfe: "auf Grund der bürgerlichen Steuerlisten" – in die Verfassung aufgenommen (Art. 147 Abs. 6 WRV). In einem Übergangszeitraum sollten die Staatsleistungen noch fortgezahlt werden, Art. 173 WRV. Dahinter steckte die Überlegung, dass die Voraussetzungen für eine auskömmliche flächendeckende Steuererhebung seitens der Kirchen damals erst noch zu schaffen waren. Inzwischen ist das bekanntlich längst geschehen.

II. Bedeutung für die Ablösung der Staatsleistungen

In der Berliner Koalitionsvereinbarung von 2021 wird – wie seit über 100 Jahren von der Verfassung verbindlich vorgeschrieben – die Ablösung der Staatsleistungen in Aussicht gestellt. Die abzulösenden Staatsleistungen müssen, so sieht es  Art 138 WRV vor, auf Gesetz, Vertrag oder sonstigen Rechtstiteln beruhen. Es kommt also für die Planung einer eventuellen Ablöseentschädigung darauf an, festzustellen, auf welchen konkreten Gesetzen, Verträgen oder sonstigen Rechtstiteln die Staatsleistungen beruhen, welche am 14.08.1919 bei Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung bestanden. Nach deutschem Recht ist derjenige, der eine Forderung erhebt, also hier die Kirchen, nachweispflichtig  dafür, dass diese Forderung berechtigt ist, und zwar dem Grunde wie der Höhe nach. Zu dieser Frage sieht man sich in der heutigen Diskussion vergeblich um. Es gibt diesbezügliche Untersuchungen – soweit ersichtlich – nirgends, weder staatlicher- noch kirchlicherseits.

Stattdessen wird in der politischen Diskussion darauf verwiesen, dass nach 1919 die Höhe der Staatsleistungen in den seitdem mit der evangelischen und der katholischen Kirche geschlossenen Staatskirchenverträgen neu vereinbart worden sei. Daher könnten nun diese neuen Beträge, einschließlich der seitdem eingetretenen Steigerungen ("nach Maßgabe der Beamtenbesoldung"), einer zu zahlenden Ablösungsentschädigung zugrunde gelegt werden. Dahingestellt sei an der Stelle, ob jene Verträge überhaupt zulässig gewesen sind. Ein Nachweis dafür, dass die Festlegungen in den Staatskirchenverträgen die Rechtstitel von 1919 korrekt abbilden, der Höhe wie dem Grunde nach, fehlt jedenfalls. Angesichts der höchst unterschiedlichen heutigen Beträge etwa in den ehemals preußischen Ländern und mit Blick auf die veröffentlichten Begründungen der Staatskirchenverträge ergeben sich erhebliche Zweifel.

Am Beispiel Niedersachsen: der evangelische "Leitvertrag" (Loccumer Vertrag) bezieht sich für die Staatsleistungen auf das preußische Pfarrbesoldungsgesetz von 1931, also nicht auf die Verhältnisse vor 1919; für die nichtpreußischen Landesteile Oldenburg, Braunschweig und Schaumburg-Lippe fehlt gleich jeder historische Bezug. Ferner wird die katholische Kirche im Konkordat von 1965 gänzlich ohne historische Bezugnahme auf Gesetze oder Verträge schlicht mit der evangelischen Kirche "auf der Basis einer Pfennigparität gleichgestellt". Im rheinland-pfälzischen evangelischen Kirchenvertrag von 1962 werden "die bisherigen Staatsleistungen […] den heutigen Bedürfnissen angepasst". Ein Zusammenhang mit den abzulösenden Staatsleistungen von 1919 wird nicht einmal mehr behauptet. Ähnlich sieht es in den anderen Bundesländern aus.

Die gängige Bezugnahme auf die staatsvertraglich vereinbarten und seitdem nach Maßgabe der Beamtenbesoldung fortgeschriebenen heutigen Staatsleistungen, entspricht also nicht der Verfassung und ist offensichtlich interessengeleitet.

Im Jahr 1950 betrugen die Staatsleistungen der Länder 33 Millionen Euro (umgerechnet), im Jahre 2024 lagen sie bei 618 Millionen Euro. Welcher Betrag bei korrekter Rechtsanwendung einer Ablösungsentschädigung zugrunde zu legen wäre, ist unbekannt. Denn die dazu erforderlichen Tatsachen müssten kirchlicherseits erst noch dargelegt und der Öffentlichkeit unterbreitet werden.

Festzuhalten ist: gemäß der Verfassung sind die Staatsleistungen nach der Rechtslage von 1919 abzulösen und nicht nach der heutigen kirchenvertraglicher Rechtslage.

Die Behauptung der Ministerpräsidenten der Länder, die finanzielle Situation lasse es derzeit und auf absehbare Zeit nicht zu, eine gewaltige Ablösungsentschädigung in Milliardenhöhe zu zahlen, beruht mithin letztlich auf der falschen Annahme, die derzeitige Höhe der Staatsleistungen (alle Länder 618 Millionen Euro, in Niedersachsen allein 54 Millionen Euro) sei zugrunde zu legen und müsse mit einem mehr oder weniger willkürlichen Faktor ("das 18,6-Fache") vervielfältigt werden. Das ist jedoch aus den genannten Gründen unzutreffend.

Ferner: Die Diskussionsbeiträge der Kirchen und der Politik gehen darüber hinweg, dass durch die über 100-jährige Missachtung des Verfassungsgebots zur Ablösung bereits große Summen an die Kirchen geflossen sind. Allein seit 1949 in der Bundesrepublik 21,4 Milliarden Euro, in Niedersachsen 1,92 Milliarden Euro. Je länger man die Verfassung ignoriert, desto höher würde dieser "Logik" nach die Ablöseentschädigung. Der weitere Verzicht auf die Ablösung würde hingegen stetig anwachsend weitere Milliarden kosten.

Das ist auch unter dem Gesichtspunkt des Bedarfs der Kirchen bei schwindenden Mitgliedszahlen eine absurde Situation: Womit sonst als mit der Befriedigung des Bedarfs waren und sind die laufenden Staatsleistungen überhaupt zu rechtfertigen? Wird die dramatische Abnahme der Kirchenmitglieder überhaupt berücksichtigt? Staatsleistungen irgendwann für eine Kirche ohne Mitglieder? Abgesehen davon: ein Verfassungsauftrag steht nicht unter einem Finanzierungsvorbehalt.

Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass Kirchen, Bund und Länder im zweiten Halbjahr 2022 im Geheimen in einer Arbeitsgruppe über ein Ablösungsgrundsätzegesetz beraten haben. Die Beratungen wurden offenbar ergebnislos beendet. Die Öffentlichkeit wurde über den Inhalt und über die Positionen der Beteiligten nicht unterrichtet. Das Bundesinnenministerium hat die Herausgabe der vollständigen Unterlagen über die Beratungen bislang verweigert. Diesbezüglich ist eine vom ifw unterstützte IFG-Klage anhängig.

von ifw-Beirat Johann-Albrecht Haupt