Ein Priester ist immer im Dienst – zumeist greift eine Amtshaftung der Bistümer

Im Fall der Melanie F., die als Kind und Jugendliche von dem seinerzeitigen Priester und gleichzeitigen Pflegevater Hans Ue. nicht nur jahrelang schwer sexuell missbraucht wurde, sondern darüber hinaus wurde bei ihr unter dem Vorwand einer gynäkologischen Untersuchung heimlich ein Schwangerschaftsabbruch von einem Frauenarzt vorgenommen, spielt die Frage, inwiefern ein Priester auch einmal nur "Privatperson" ist, eine entscheidende Rolle.

Gegen eine Aufspaltung in Priester und Privatperson wendet sich, wie das Online-Portal katholisch.de berichtet, der Kirchenrechtler Thomas Schüller. Er bewertet es vor dem Hintergrund des kirchlichen Amtsverständnis als "realitätsfern und pervers", davon auszugehen, ein Priester könne seine Opfer zwar im dienstlichen Kontext rekrutieren, er sie dann aber privat vergewaltige.

Mit der "Natur des Priesterseins" befasst sich Christoph Paul Hartmann in seinem Artikel "Warum ein Priester auch im Urlaub nicht frei hat", und er hat dafür mit dem Kirchenrechtler Georg Bier gesprochen. Hartmann spricht von der "Totalexistenz des Priesters" und zitiert dazu Bier:

'"Da gibt es kein Privatleben im landläufigen Sinn. Natürlich kann ein Priester etwas machen, was nicht direkt mit seinen Amtspflichten zu tun hat, natürlich geht er bisweilen in Urlaub – er ist aber auch dann immer Priester und als solcher im Dienst.‘ Denn durch die Weihe sei der Priester von den Laien ontologisch, also von seiner prinzipiellen Natur aus, unterschieden. ,Es geht um immerwährende Verfügbarkeit und ganzheitliche Hingabe.‘"

Zuvor erläutert der Journalist, dass das Priesteramt ein Sakrament sei und zeigt die Bedeutung der Priesterweihe anhand mehrerer Stellen aus dem Katechismus der Katholischen Kirche auf. Eine Bestätigung der "ganzheitlichen Hingabe" erblickt Hartmann darin, dass das Direktorium Regeln für jeden Lebenssituation des Priesters vorgebe. Als Beispiel nennt er die Bekleidungsvorschriften. Bestätigt wird dieses Verständnis von dem Dogmatiker Georg Essen, der erläutert, dass trotz aller Moden und Ausprägungen sich nichts an der Grundkonzeption des Priesteramts, wie es sich beim Konzil von Trient 1545-1563 etabliert hat, ändert.

Im Hinblick auf den Fall von Melanie F. und der vorläufigen Ansicht der Kölner Zivilkammer rügt Bier: "Anders als sonst legt der Richter hier ein staatliches Arbeitsverständnis für einen Priester an, indem er definiert, dass etwa gemeinsames Baden ins Privatleben gehört. Kirchlich ist das unmöglich – und das sollte eigentlich auch der Staat anwenden." Zu Recht kritisiert Bier ferner, dass sich ausgerechnet das Bistum auf diese Sichtweise (vermeintliche Trennung von Dienst und Privatleben) beruft. Bier hält das für "skandalös" und für unvereinbar mit der kirchlichen Lehre.

Mit der Kritik sind die Vorgenannten nicht allein. Anfang Juli 2024 hatten bereits mehrere Kirchenrechtler die vorläufige Auffassung des Gerichts kritisiert. Norbert Lüdecke, erläuterte wie bei katholisch.de zu lesen war, dass das Gericht einen entscheidenden Aspekt ignoriere: "Als Kleriker übernimmt der Priester die rechtliche Verpflichtung, sein Leben auf eine bestimmte Weise zu führen." Die sieht er – verständlicherweise – durch einen sexuellen Missbrauch verletzt.

Differenziert sieht es der Theologe und Kirchenrechtler Philipp Thull: "Privates Handeln des Priesters lässt sich zwar nicht völlig verneinen [zB Einkaufen, Urlaub], in den meisten Fällen sexuellen Missbrauchs wird man aber sehr wohl davon ausgehen dürfen, dass beschuldigte Kleriker im Dienst unter Ausnutzung ihrer Stellung und des Vertrauens, das man ihnen allein aufgrund ihres priesterlichen Daseins geschenkt hat, gehandelt haben."

Dass gerade diese Voraussetzung auch im Fall der Melanie F. erfüllt sind, hat ifw-Direktor Jörg Scheinfeld neulich im Weltanschauungsrecht Aktuell Beitrag vom 16.07.2024 dargelegt. Die vorläufige Ansicht des Landgerichts Köln, dass Ue. die Sexualstraftaten gerade nicht – wie von Art. 34 GG für eine Amtshaftung gefordert – "in Ausübung eines ihm anvertrauten Amtes" (Diakons- und Priesteramt) begangen hat, kann einer kritischen Überprüfung selbst dann nicht standhalten, wenn man davon ausgeht, das Klerikeramt ließe eine Aufspaltung in eine "Dienstperson" und eine "Privatperson" zu. Denn Ue. hat seine Amtsstellung missbraucht, indem er sich in das Vertrauen der damals 12-Jährigen schlich: "Dies war ihm unter dem Mantel der Dienstpflichterfüllung möglich, weil es nach der Deutschen Bischofskonferenz zu den Amtspflichten des Diakons zählt, sich um Menschen ,am Rande der Gesellschaft‘ zu kümmern".  Scheinfeld hält daher fest:

"Ein solches Ausnutzen seiner Diakonsstellung in Form des Aufbauens von Vertrauen hat sich Ue. in abgründiger Weise zuschulden kommen lassen. Er hat – was Gegenstand seiner Diakonstätigkeit ist – Vertrauen aufgebaut zu dem besonders schutzbedürftigen 12-jährigen Heimkind. Dieses Vertrauen hat er dann missbraucht zur Begehung schwerer Sexualstraftaten. Zudem hat er über das Aufbauen des Vertrauens dafür gesorgt, dass sein Opfer später sein Pflegekind wurde und aus dem Heim raus zu ihm ins Pfarrhaus kam. Und die so geschaffene Situation hat er wiederum ausgenutzt, um sein Opfer zu nötigen: ,Wenn du nicht mitmachst, musst du zurück ins Heim‘.  Schon aus diesen wenigen Aspekten des Falles folgt, dass der nötige Zusammenhang auch hinsichtlich derjenigen Taten besteht, die Ue. als Diakon begangen hat."

"Der Täter hat […] die Beichte missbraucht, um sich das Opfer gefügig zu machen, dessen Skrupel zu unterdrücken und zu verhindern, dass sein Opfer sich anderen Priestern in der Beichte offenbart. Ihm hat daher die Priesterstellung die Tatbegehung erleichtert, indem er seine Vertrauensstellung als Priester zur Tatermöglichung und Tatverdeckung genutzt hat."

"Bei solcher Sachlage in Bezug auf die Tatserie des Amtsträgers die Amtshaftung zu verneinen, das wäre in evidenter Weise unvereinbar mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs."