Die vollständige Legalisierung des selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruchs als konsequente rechtliche Lösung

Im aktuellen Heft der von der Gesellschaft für kritische Philosophie herausgegebenen Zeitschrift "Aufklärung & Kritik" hat die stellv. ifw-Direktorin Jessica Hamed in ihrem Aufsatz "Die vollständige Legalisierung des selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruchs als konsequente rechtliche Lösung" das Thema Schwangerschaftsabbruch umfassend beleuchtet. In einem Zwischenfazit stellt sie fest: "Der Schwangerschaftsabbruch wird nach § 218a Abs. 1 StGB lediglich als 'rechtswidrig' bezeichnet. Behandelt wird er indes als rechtmäßig. Der Normappell ist damit widersprüchlich und konterkariert das in epischer Breite ,begründete' angeblich bestehende Lebensrecht (nebst Menschenwürde) des Embryos."

Bereits die Einleitung verspricht, was der Aufsatz bis zuletzt durchhält. Klare Worte und eine stichhaltige Argumentation:

"Das derzeitige Regelungsregime des Schwangerschaftsabbruchs wird traditionell als eine Art befriedender gesellschaftlicher 'Kompromiss' überhöht. Tatsächlich weist die vom Bundesverfassungsgericht in zwei beispiellosen Entscheidungen dem Gesetzgeber aufgenötigte Lösung 'fundamentale Inkonsistenzen im geltenden Recht' auf, das hat Reinhard Merkel mit bestechender Klarheit entfaltet. Beide höchstrichterliche Entscheidungen leiden zudem unter der Fehlannahme einer Grundrechtsträgerschaft des Embryos. Ein solcher Status lässt sich exegetisch weder aus dem Grundgesetz noch aus den Gesetzesmaterialien ableiten. Diese Annahme fußt bei Licht besehen auf dem bloßen Willen, den Embryo als angeblichen Grundrechtsträger anzusehen. Den Preis dafür zahlen – mit moralisierenden Abwertungen und den staatlichen ultima-ratio-Eingriffen in das intime Recht der reproduktiven Selbstbestimmung – die Schwangeren, und dieser Preis ist unabhängig von der fehlenden durchschlagenden juristischen Begründung auch rein tatsächlich (zu) hoch."

Im Weiteren berücksichtigt Hamed die Reformvorschläge der von der Bundesregierung eingesetzten "Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin", die diese im April 2024 vorgestellt hat. Sie begrüßt deren Forderung nach der Entpönalisierung der Schwangerschaftsabbrüche in der Frühphase, bedauert aber das Versäumnis der Kommission, "einen Vorschlag zu unterbreiten, der die dogmatischen Brüche der aktuellen Gesetzeslage auflöst". Hamed konstatiert, dass die Kommission "faktisch (doch), wie auch das Bundesverfassungsgericht [annimmt], dass der Embyro/Fötus ein Grundrechtsträger ist."

Sodann erläutert die Juristin ausführlich, wieso kein Grundrechtsschutz des Embryos besteht. Dabei blickt sie auf die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes, auf das Allgemeine Preußische Landrecht, entkräftet den Einwand der "Potenzialität" und hält fest, dass der Status der "Rechtsperson" einsichtig an die Geburt anknüpft. Daraus folgt nach Hamed, dass den Rechten der Frau keine "Lebensrecht" des Embryo oder Fötus gegenüberzustellen ist, da ein solches nicht besteht.

Hiernach veranschaulicht die Autorin die Inkonsistenzen der derzeitigen Rechtslage an einigen Beispielen. Zuerst widmet sie sich der vom Bundesverfassungsgericht konstatierten "Austragungspflicht" und fragt, nachdem sie unter Verweis auf die Rechtslage und Rechtsprechung darlegt, dass die Schwangere den Embryo etwa durch Rauchen und Alkohol ungestraft schädigen darf: "Wer eine Austragungspflicht statuiert, muss konsequenterweise wenigstens auch eine Nichtverletzungspflicht oder gar ein Gesundheitsgebot anordnen. Warum sollte es nur verboten sein, abzutöten, aber nicht zu verletzen?"

Außerdem stellt Hamed überzeugend den wohl augenfälligsten Widerspruch der aktuellen Regelung dar: Sie sieht es als nicht vereinbar mit der verfassungsgerichtlichen Annahme der Menschenwürde des "ungeborenen Lebens" in jedem Entwicklungsstadium an, gleichzeitig den indikationslosen Schwangerschaftsabbruch faktisch zu erlauben.

Hiernach unternimmt Hamed einen Exkurs zur Bedeutung und Rolle des Bundesverfassungsgerichts und konstatiert:

"Der vertiefte Blick in die Entscheidungen des Gerichts in den Jahrzehnten zeigt indes, dass die hohen Erwartungen an die politisch ausgewählten Richterinnen und Richter nicht durchweg erfüllt werden. Es gibt eine Reihe offensichtlich falscher Entscheidungen, die exemplarisch zeigen, dass das Gericht immer wieder den vermeintlichen, nicht selten moralisch aufgeladenen und mithin ideologisierten Zeitgeist abbildet – oder manches Mal auch einfach darin verharrt."

Sie verweist zur Veranschaulichung auf folgende Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts: Urteil über die angebliche Verfassungsmäßigkeit der strafrechtlichen Verfolgung homosexueller Männer, Cannabis-Beschluss, Urteil zum Inzestverbot und Beschluss zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht.  Auch die Rechtsprechung zum Schwangerschaftsabbruch sieht sie in der "unrühmlichen Reihe politisch motivierter (Fehl-)entscheidungen".

Abschließend fordert Hamed, dass der Schwangerschaftsabbruch rechtlich als höchstpersönliche Angelegenheit der Schwangeren anerkannt werden sollte.