Überraschende Wendung im Kölner Missbrauchsprozess der Melanie F.

Im Fall der Melanie F., die als Kind und Jugendliche von dem seinerzeitigen Priester und gleichzeitigen Pflegevater Hans Ue. nicht nur jahrelang schwer sexuell missbraucht wurde, sondern darüber hinaus wurde bei ihr unter dem Vorwand einer gynäkologischen Untersuchung heimlich ein Schwangerschaftsabbruch von einem Frauenarzt vorgenommen, schwenkt das Landgericht Köln nunmehr auf die Argumentation der Klägerin um.

In der mündlichen Verhandlung am 2. Juli 2024 erläuterte der Vorsitzende der zuständigen Kölner Zivilkammer noch, warum aus vorläufiger Sicht des Gerichts kein Zusammenhang zwischen dem Klerikeramt und den Sexualstraftaten und damit keine Amtshaftung des Erzbistums bestehe: Eine Pflegevaterschaft sei Privatsache des Priesters, und die Sexualstraftaten habe der Pflegevater im privaten Bereich (Pfarrhaus) begangen.

Warum diese Argumentation nicht überzeugen konnte, entfaltete ifw-Direktor Jörg Scheinfeld Mitte Juli im jüngsten Weltanschauungsrecht Aktuell Beitrag. Sie kann einer kritischen Überprüfung selbst dann nicht standhalten, wenn man davon ausgeht, das Klerikeramt ließe eine Aufspaltung in eine "Dienstperson" und eine "Privatperson" zu. Denn Ue. hat seine Amtsstellung sehr wohl missbraucht, indem er sich in das Vertrauen der damals 12-Jährigen schlich: "Dies war ihm unter dem Mantel der Dienstpflichterfüllung möglich, weil es nach der Deutschen Bischofskonferenz zu den Amtspflichten des Diakons zählt, sich um Menschen ,am Rande der Gesellschaft‘ zu kümmern", führt Scheinfeld aus.

Von kirchenrechtlicher Seite wurde darüber hinaus die Aufspaltung in Priester und Privatperson heftig kritisiert. Thomas Schüller etwa bewertet es vor dem Hintergrund des kirchlichen Amtsverständnis als "realitätsfern", davon auszugehen, ein Priester könne seine Opfer zwar im dienstlichen Kontext rekrutieren, er sie dann aber privat vergewaltige.

Die beiden Rechtsprofessoren Nobert Lüdecke und Stephan Rixen schlossen sich Ende August 2024 der vielfachen Kritik an und legten im Verfassungsblog frei:

"Das Erzbistum Köln hält von dieser Unterscheidung zwischen Priester und Privatperson viel, weil es ihm (von Fragen der Verjährung abgesehen) die Haftung erspart. Und doch muss es erstaunen, dass der Vorsteher eines Erzbistums, das nicht ohne Grund als "Rom am Rhein" gilt, nicht auf die Beachtung des kirchenamtlich gebotenen Verständnisses vom Priesteramt dringt, obwohl er sonst für eine besonders lupenreine Lesart des römischen Selbstverständnisses eintritt. Dass die Berücksichtigung des kirchlichen Selbstverständnisses aus staatlich-rechtlicher Sicht bei der Auslegung von § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB ("Amtspflicht") geboten ist, folgt aus dem sog. kirchlichen (genaugenommen: religionsgesellschaftlichen) Selbstbestimmungsrecht (Art. 140 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 Satz 1 GG)."

Nunmehr hat das Landgericht Köln den für die kommende Woche anberaumten Verkündungstermin aufgehoben und davon abgesehen, bereits jetzt ein Urteil zu sprechen. Offensichtlich hat die Kammer ihre Rechtsansicht, dass keine Haftung des Erzbistums bestünde, revidiert.

Offen bleibt allerdings, welchen Haftungsgrund das Landgericht sieht: Amtshaftung der Kirche und/oder Pflichtverletzung eines Vertreters des Erzbistums (Amtspflichtverletzung der Leitungsebene). Nach den Ausführungen der Klägerin war damals mehreren Kirchenvertretern bekannt (insbesondere einem vorgesetzten Priester), dass die 14-jährige Melanie F. bei Ue. im Priesterseminar im Bett geschlafen hat – und niemand im Erzbistum ist diesem offensichtlich alarmierenden Umstand weiter nachgegangen. Die darin liegende Pflichtverletzung könnte für das Gericht haftungsbegründend oder auch (nur) für die Höhe des Schmerzensgeldes relevant sein.