Kirchliches Arbeitsrecht: Erneut Vorlagenfrage an den Europäischen Gerichtshof

Unser Beirat Hartmut Kreß hat sich in erhellender Weise mit dem neuerlichen Vorabentscheidungsgesuch des Bundesarbeitsgerichts zum kirchlichen Arbeitsrecht befasst. In seinem Beitrag, der in der Fachzeitschrift MedR (2024), S. 580-585 open access veröffentlicht wurde, stellt er den konkreten Streitfall vor, beleuchtet die Hintergründe der Vorlagefrage, erläutert allgemein die Bedeutung des Kirchenaustritts in der Sicht der katholischen Kirche und ordnet den konkreten Sachverhalt rechtlich ein. Kreß schließt sodann mit einem Resümee und stellt wichtige Anschlussfragen.

Zunächst stellt Kreß dar, dass evangelische und katholische Kirchen in Deutschland nach dem Staat immer noch der größte Arbeitgeber sind, der sich "arbeitsrechtliche Sondernormen" wie etwa die Befreiung vom BetrVerfG geschaffen hat. Danach rezipiert er die beiden diesbezüglichen EuGH-Entscheidungen aus dem Jahr 2018 ("Chefarztfall" und "Fall Egenberger"), durch die das deutsche kirchliche Arbeitsrecht korrigiert wurde, "indem sie den Anspruch der Kirchen beschnitten, mithilfe ihrer internen arbeitsrechtlichen Normen individuelle Grundrechte von Beschäftigten und ihr Recht auf Privatsphäre einzuschränken." Dem EuGH zufolge dürfe ein kirchlicher Anstellungsträger  "Kirchenzugehörigkeit nur dann einfordern, sofern die jeweilige Tätigkeit auf Verkündigung, also Predigt oder Seelsorge, religiöse Leitungsfunktionen oder religiös relevante Repräsentanz nach außen fokussiert ist."

Das Thema ist in Deutschland aber strittig geblieben. Eine weitere Vorlagenfrage ("Hebammenfall") wurde letztlich vom EuGH nicht entschieden, denn die katholische Kirche nahm die Kündigung zurück, "weil sie vor dem EuGH eine Niederlage befürchtete", wie Hartmut Kreß überzeugend darlegt. Der EuGH hatte danach gefragt, "ob die katholisch getragene Klinik als 'eine private Organisation, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen beruht‘, einer Person wegen Kirchenaustritt kündigen darf, obwohl sie andere Personen auf vergleichbaren Arbeitsstellen beschäftigt, die keine Kirchenmitglieder sind."

Dem aktuellen Streitfall liegt der folgende Sachverhalt zu Grunde:

"Ein als katholischer Frauen- und Fachverband tätiger Verein, der schwangere Frauen im Sinne der Morallehre der katholischen Kirche berät, hatte 2019 einer Sozialpädagogin gekündigt, weil sie 2013 während ihrer Elternzeit aus der katholischen Kirche ausgetreten war. Der Grund war die Kirchensteuer, näherhin das besondere Kirchgeld gewesen, das nach der im Bistum Limburg geübten Praxis zu entrichten ist, weil das Einkommen ihres nichtkatholischen Mannes das ihrige überstieg. Ihr wurde gekündigt, da ihrem katholischen Arbeitgeber zufolge ein Kirchenaustritt eines der 'schwersten Vergehen‘ gegen den Glauben und die Kirche sei. Der katholische Verein habe nicht mehr damit rechnen können, dass sie sich 'bei ihrer Beratungstätigkeit vorbehaltlos an den Vorgaben der katholischen Kirche‘ orientiere. In Erwiderung dieser kirchlichen Vorhaltung erklärte die gekündigte Frau gegenüber dem ArbG Wiesbaden und dem LAG Hessen, ihre Bindung an die christlichen bzw. an die katholischen Werte bestehe unverändert fort. Sie wolle Schwangerenberatung weiterhin auf jeden Fall bei ihrem bisherigen Arbeitgeber durchführen, weil sie hier keinen Beratungsschein gemäß §§ 218 a, 219 StGB auszustellen brauche, der Frauen einen Schwangerschaftsabbruch ermöglicht. Im Übrigen beschäftige der Verein auf einem Drittel der entsprechenden Stellen als Beraterinnen Frauen, die der evangelischen Konfession angehören. Die Beratungstätigkeit selbst habe den Vorgaben des Vereins folgend 'konfessionsneutral‘ und 'ausdrücklich‘ nichtmissionarisch zu erfolgen." 

Die Klage der Frau gegen die Kündigung sei vor dem Arbeitsgericht Wiesbaden und Landesarbeitsgericht Hessen u.a. deshalb erfolgreich gewesen, weil "eine Mitgliedschaft in der katholischen Kirche für die konkrete Arbeitstätigkeit nicht wesentlich sei. Denn der Verein beschäftige ebenfalls nicht-katholische Schwangerenberaterinnen und schreibe bei vergleichbaren Stellenausschreibungen die Kirchenmitgliedschaft nicht vor. Außerdem sei eine Pflicht zur formalen Kirchenzugehörigkeit überhaupt nicht erforderlich, um durchzusetzen, dass eine Beraterin mit den Schwangeren im Sinn der katholischen Lehre spreche, weil diese Anforderung durch sonstige Bestimmungen des Arbeitsvertrags abgesichert werde."

Weil der Fall nun dem EuGH vorgelegt worden ist, beschäftigt sich Kreß in seinem Aufsatz mit einer begrifflichen Differenzierung, die der EuGH selbst ins Spiel gebracht hat. Es geht um den Unterschied zwischen dem "Ethos" einer Religionsgemeinschaft und dem "Selbstverständnis" einer solchen. Die EU-Richtlinie, auf deren Basis der EuGH zu entscheiden habe, sichere Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften den Schutz ihres "Ethos" zu. Der deutsche Gesetzgeber spreche hingegen von ihrem "Selbstverständnis". Kreß zufolge sind mit dem "Ethos" die grundlegenden, verbindlichen Prinzipien einer Religionsgemeinschaft gemeint, wohingegen der Begriff des Selbstverständnisses "weiter gefasst" und "vager" sei. Für die katholische Kirche verhalte es sich so, dass ihr Ethos vom Lehramt in Rom festgelegt werde. Das partikulare Selbstverständnis der deutschen katholischen Kirche spiele für die EU-Richtlinie keine eigene Rolle.

Vor diesem Hintergrund stellt Kreß die Aussagen aus Rom und den Standpunkt der deutschen katholischen Bischöfe zum Kirchenaustritt dar. Dem Apostolischen Stuhl zufolge könne eine Person trotz eines äußerlichen Austritts aus der Kirche, der nach staatlich-weltlichem Recht erfolgte, weiterhin der Kirche angehören, wenn bei ihr innerlich "'der Wille zum Verbleiben in der Glaubensgemeinschaft‘ bestehe." Die Aussagen der deutschen katholischen Bischöfe, die den äußerlich-rechtlichen Kirchenaustritt mit einem Abfall vom katholischen Glauben gleichsetzen, weichen hiervon ab. Kreß belegt dies mit Texten aus Rom einerseits, der deutschen katholischen Bischöfe andererseits. Weil für den EuGH das Ethos, also der Standpunkt Roms maßgebend sei, wird er, wie Kreß meint, voraussichtlich im Sinn der Klägerin entscheiden und die Kündigung für nicht rechtens erklären. Zu diesem Ergebnis werde der EuGH überdies deshalb gelangen, weil ein Kirchenaustritt durch das Grundrecht auf negative Religionsfreiheit abgedeckt werde.

Dies alles gilt Kreß zufolge trotz der Besonderheit des aktuellen Falls. Zu den Aufgaben der gekündigten Frau habe die  Schwangerenberatung gehört. Dieses Thema berühre den "ganz harten Kern der römisch-katholischen Lehre", die den Schwangerschaftsabbruch strikt verbiete. Gleichwohl sei die Kündigung, so Kreß, unzulässig. Er verweist auf die Begründungen der Instanzgerichte und betont, dass sich die Gekündigte persönlich weiterhin dem Ethos der katholischen Kirche einschließlich der katholischen Lehre zum Schwangerschaftsabbruch verpflichtet fühle. Mit ihrem Kirchenaustritt habe sie nur die ihr bzw. ihrem Mann auferlegte Zahlung des "besonderen Kirchengelds" vermeiden wollen. Ihrer eigenen glaubhaften, unbestrittenen Aussage zufolge sei sie weiterhin überzeugte Katholikin. Außerdem hält der Autor die Kündigung für eine Diskriminierung, weil der katholische Verein Beraterinnen evangelischer Konfession eingestellt habe, obwohl die evangelische Kirche Schwangerschaftsabbrüche akzeptiere und sie neuerdings sogar für die Ausweitung der Legalisierung eintrete.

Abschließend macht Kreß darauf aufmerksam, dass die katholische und evangelische Kirche in ihren neuen Loyalitätsrichtlinien den Versuch unternommen haben, die durch den EuGH im Jahr 2018 geschaffene Rechtslage zu unterlaufen. Kreß erhofft sich jetzt eine klare Antwort vom Gericht und fordert Staat und Gesellschaft dazu auf, den "zulasten der negativen Religionsfreiheit ausgeübten Druck nicht länger zu tolerieren".