Sexueller Missbrauch und Zwangsabtreibung – Klage gegen das Erzbistum Köln
Der erste große Schadensersatzprozess gegen das Erzbistum Köln ist noch keinen Monat erstinstanzlich abgeschlossen und schon wurde vorgestern vor dem Landgericht Köln der nächste Großschadensprozess eingeläutet. In beiden Fällen vertritt Rechtsanwalt Eberhard Luetjohann gemeinsam mit Kollegen die Interessen des Klägers beziehungsweise der Klägerin. Mehr als 200 Missbrauchsopfer haben sich inzwischen an den Anwalt gewandt.
Die Klägerin, Melanie F., ist eine 56-jährige Frau, die der Ex-Priester Hans Ue., der inzwischen für andere Missbrauchstaten zu 12 Jahre Freiheitsstrafe verurteilt wurde, nicht nur jahrelang schwer sexuell missbraucht hat, sondern darüber hinaus bei ihr unter dem Vorwand einer gynäkologischen Untersuchung heimlich ein Schwangerschaftsabbruch von einem Frauenarzt vornehmen ließ.
Der Täter, der seit Mai 2022 rechtskräftig verurteilt ist, wurde Anfang Juli 2023 von Papst Franziskus auf Ersuchen von Kardinal Woelki aus dem Klerikerstand entlassen.
Aufgrund der ersten Klage, die mit einem Signalurteil endete, bekam dem dortigen Kläger, Georg Menne, 300.000,00 Euro Schadensersatz zugesprochen. Beklagter war auch dort das Erzbistum Köln. Als Anstellungskörperschaft des Täters haftet es nämlich dann im Wege der Amtshaftung in analoger Anwendung des § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG dem Missbrauchsopfer für materielle und immaterielle Schäden, wenn der Täter seine Missbrauchstat im Zusammenhang mit seiner kirchlichen Tätigkeit verübt hat. In dem Fall von Melanie F. hat der damalige Kardinal Höffner dem Ex-Priester Ue. erlaubt, die damals 12jährige Klägerin sowie zwei weitere Kinder aus einem Pflegeheim zu sich zu nehmen und die Vormundschaft zu übernehmen und ihm so den ungestörten Zugriff im räumlichen Bereich des Erzbistums verschafft. Der nötige Zusammenhang besteht schon deshalb.
In beiden Fällen wird bzw. wurde über bereits verjährte Ansprüche verhandelt. Im Fall Menne hat die Kirche zwar zunächst die Einrede der Verjährung erhoben, dann aber rasch den Verzicht erklärt. Ifw-Direktor Jörg Scheinfeld erläuterte im Hinblick auf diese oft auftretende Thematik bereits im Mai 2022, dass es sich nach dem Selbstverständnis der Katholischen Kirche allemal verbieten sollte, dieses Recht zur aktiven Verweigerung der Leistung auszuüben – und er fügte hinzu:
"Die Kirche würde sich selbstwidersprüchlich verhalten, wenn sie diesen Missbrauchsopfern die Notwendigkeit der Leidanerkennung und des Leidausgleichs im Anerkennungsverfahren bestätigt, dann aber die Realisierung des bestehenden Rechtsanspruchs auf vollen Schadensausgleich vereitelt und den angemesseneren Leidausgleich verweigert. Dies würde die eignen Anerkennungs- und Aufarbeitungsbemühungen konterkarieren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Kirche diesen Weg geht, damit würde sie die Missbrauchsopfer zusätzlich schwer demütigen. Wer leistungsfähig ist und an seinem Gegenüber empathisch interessiert ist, wird dies nicht tun."
Zumal die Taten des Ue. nach Woelkis Bewertung mit der Entlassung aus dem Priesterstand die innerkirchliche "Höchststrafe" verdienten, was es verbieten sollte, sich den (Genugtuung fordernden) Opfern gegenüber auf den Zeitablauf zu berufen. Es ist (nicht nur deshalb) zu erwarten, dass auch dieses Mal – und letztlich in allen Missbrauchsfällen – seitens des Erzbistums Köln auf die Einrede der Verjährung verzichtet wird. Damit rechnet auch der Klägervertreter Luetjohann, der andernfalls den "Marianengraben der Unmoral erreicht" sieht, wie er gegenüber dem Kölner Stadt-Anzeiger mitteilte.
Falls das Erzbistum wider Erwarten die Verjährungseinrede erheben würde (nur dann ist sie vom Landgericht Köln zu prüfen), wäre es Aufgabe der Kammer festzustellen, dass die Erhebung der Verjährungseinrede aufgrund des Verhaltens des Bistums beziehungsweise generell der römisch-katholischen Kirche, deren Verantwortliche jahrzehntelang klerikalen Missbrauch systematisch vertuscht haben, treuwidrig ist.
Georg Menne bekam 300.000,00 Euro für über 300 Fälle schweren sexuellen Missbrauchs zugesprochen. Eingeklagt waren 805.000,00 Euro. Im Fall von Melanie F. werden 850.000,00 Euro eingeklagt. Gegenüber ZEIT online zeigte sich Luetjohann unzufrieden mit der ausgeurteilten Schadensersatzhöhe im Fall Menne, konstatiert, dass der Kläger damit pro Vergewaltigung 1000 Euro Schmerzensgeld zugesprochen wurde und fragt rhetorisch: "Wie traurig ist das bitte?"
Der Bonner Jurist verweist zudem bei der Frage der Schadensersatzbemessung auf das Missverhältnis zwischen den bisherigen – mit Ausnahme des gerade erstrittenen Urteils – verhältnismäßig niedrigen Summen, die für Missbrauchsopfer festgesetzt wurden und den sechsstelligen Summen, die zum Teil bei Verletzungen des Persönlichkeitsrechts von Prominenten, ausgeurteilt werden, etwa für die Veröffentlichung eines "Oben-ohne-Urlaubsfotos".
Ähnlich argumentiert Lothar Jaeger, Vorsitzender Richter am OLG Köln a.D. und Mitautor des Standardwerkes "Schmerzensgeld", der zu der Thematik bereits zwei Aufsätze veröffentlicht hat. Jaeger kritisiert mit guten Argumenten die bisherige ungenügende Rechtsprechungspraxis, legt präzise Kriterien fest und sieht insbesondere eine (gewisse) Vergleichbarkeit zu den sehr hohen Entschädigungsbeträgen, die zur Genugtuung nach Persönlichkeitsverletzungen ausgesprochen wurden. Er kommt letztlich zu dem Schluss, dass höhere sechsstellige Beträge angemessen sind und begründet das im Wesentlichen mit der Schwere der Taten, der Genugtuungsfunktion, dem Abschreckungsgedanken und den Vermögensverhältnissen der Bistümer, die im Wege des Amtshaftungsanspruchs für die Taten der Kleriker einstehen müssen.
In diesem besonders erschütternden Fall ist juristisch auch zu klären, wieviel der Verlust eines ungeborenen Kindes wert ist.
Die Philosophin und Theologin Doris Reisinger betont in ihrem insgesamt sehr lesenswerten Beitrag zu "unsichtbaren Fällen" der Vergewaltigungen von Frauen im kirchlichen Kontext einen insoweit wichtigen Punkt:
"Menschen, die schwanger werden können, leben mit einer spezifischen Verletzlichkeit. Wenn sie gegen ihren Willen dem Risiko einer Schwangerschaft ausgesetzt, geschwängert, zur Abtreibung, zur Geburt oder zur Adoptionsfreigabe gezwungen werden, stellt das eine über sexuellen Missbrauch hinausgehende Form von Missbrauch dar, die insbesondere vor dem Hintergrund der kirchlichen Lehre zu Empfängnis, Mutterschaft und Schwangerschaftsabbrüchen eine ganz eigene Qualität und Brisanz besitzt."
Bei der Klägerin hat sich dieses Risiko der spezifischen Verletzlichkeit auf besonders schreckliche Weise realisiert. Das Landgericht Köln steht vor der Aufgabe, auch für diese Unfassbarkeit die Schmerzensgeldhöhe zu bestimmen.
Wie viele derartige Prozesse es noch geben wird, liegt letztlich in der Hand der Kirche. Bislang, so auch im Falle der Klägerin, lehnte sie außergerichtliche Verhandlungen ab und zwingt damit die Opfer auf den mühevollen, teuren und belastenden Klageweg. Negativbeispiel ist das Erzbistum München und Freising, das in einem laufenden Klageverfahren den Kausalzusammenhang zwischen dem Missbrauch eines ehemaligen Ministranten und den negativen Auswirkungen auf dessen Leben bestreitet. Die stellvertretende ifw-Direktorin Jessica Hamed konstatiert daher, dass die Signale, die von dem Urteil im Fall Menne ausgehen (300.000 Euro Schmerzensgeld), offenbar noch nicht bei der Kirche angekommen seien. Sie fordert die Kirche dazu auf, den Missbrauchsopfern eine "Gutachtenschlacht" zu ersparen und sieht durch das bisherige Verhalten die "fehlende Wahrhaftigkeit", die Geschädigte der Kirche seit Jahren vorwerfen, durchaus belegt. Abschließend fragt Hamed:
"Wie viele Urteile müssen wohl noch gefällt werden, bis die Kirche einsehen mag, dass die Zeit der Vertuschung endgültig vorbei ist?"